Glanz und Krawall in Karlshorst: Tödliches Rennen

In der glanz&krawall-Version von Alban Bergs „Wozzeck“ ging es um die Wohnungskrise. Das Motto „Berlin is not Berlin“ war bitterernst gemeint.

Eine Schauspielerin auf der Bühne, hinter ihr die Trabrennbahn

Lisa Heinrici verkörpert die Marie Foto: Peter van Heesen

Es riecht ganz leicht nach Pferdeäpfeln auf der Trabrennbahn in Karlshorst. Über den Sand aber zieht sich eine lange Reifenspur. Übrig geblieben vom „Showdown Karlshorst: Wer schneller rennt, ist früher tot“. Tot sind zu dem Zeitpunkt Immobilienhai Lanz, Metzger Hauptmann und der junge Salonkommunist Andres K.. Niedergestreckt und mit einem Brandmal markiert von einem pinkfarbenen Pferdeungeheuer. Wozzeck und seine Freundin Marie Feierabend haben (erst mal) überlebt, weil sie sich aus dem Wettrennen um eine Karlshorster Mietwohnung herausgezogen haben.

Brecht hätte seine Freude am Spektakel gehabt, vor allem an der Stadionsprecherin, die die Methoden des Kapitalismus im Spiegel der Pferdewette seziert – und den Kollektivmord erfahrungsgesättigt kommentiert: „Du schlägst einen Kapitalistenkopf ab, und es wachsen zehn neue nach.“

Glanz&krawall hat eingeladen zu „Berlin is not Berlin“ in die Trabrennbahn Karlshorst. Berlin verliere sich selbst, so das Fazit des KünstlerInnenkollektivs, weil es Orte verliert wie ebendiese Trabrennbahn. Nach den humorgetränkten Selbstbehauptungsmottos „Berlin is not Bayreuth“ und „Berlin is not Bregenz“ ist das diesjährige Motto bitterernst gemeint. Die Stadt verliert ihr Gesicht, ist gleichzeitig nicht mehr bezahlbar. Glanz&krawall bringen genau das auf den Punkt mit ihrer Orts- und Werkauswahl. Die Dekonstruktion von Richard Wagner hat sich hier erledigt, es ist Zeit für Büchners „Woyzeck“ aus dem Jahr 1836 und Bergs Oper „Wozzeck“, erstmals aufgeführt 1925.

Dramaturg Dennis Depta und Regisseurin Mariella Sterra schauen sich die Figuren an und schälen aus den Prototypen von damals Prototypen von heute. Wozzeck, die prekäre Existenz, wirbt für sich auf der Rennbahn-Anzeigetafel mit einem Werbeclip als Lieferservice, Reinigungskraft und fünf weitere Tätigkeiten im Niedrigstlohnsektor. Wozzeck wuselt schon die ganze Zeit im Arbeitsanzug zwischen den Zuschauerrängen umher, sammelt Müll ein. Dabei beginnt es langsam zu dämmern, über die Weite der Rennbahn zieht ein Vogelschwarm hinweg.

Es ist immer was los vor den Rängen, da steht ein alter Campinganhänger als Wettbüro, die Rennteilnehmer setzen sich in Szene. Dann aber, es ist schon dunkel, laufen sie auf die Weite der Rennbahn, so weit weg, dass sie wirken wie Spielzeugfiguren. Der Blick schweift zwischen Rennbahn und dem Close-up auf der Anzeigetafel. Da laufen sie. Und liegen auf einmal da auf der Bahn.

Singend tastender Krebsgang

Ein unvergesslich langer, berührender Moment der Entschleunigung tritt ein: Vorsichtig und unendlich langsam tupfen die liegenden WettbewerberInnen „Mensch“ in den dunklen Himmel. Es ist, als wäre die Inszenierung in einen Zeitlupenmodus gefahren worden. Grönemeyers Sound ist noch zu erkennen, und doch hört man das Lied neu. Der singend tastende Krebsgang raus aus der Rennbahn und dem Wettbewerb bewegt und ist visuell ein Bild, das bleibt.

Glanz&krawall bespielt das Rennbahngelände nicht allein, Depta und Sterra laden immer neue FreundInnen ein. Diesmal das Straßentheater Rumpel Pumpel, das Kollektiv Lauratibor aus Kreuzberg, das Babylon Orchestra und Ramba Zambas Band „21 Downbeat“.

Man braucht zwei Abende, um alles sehen zu können, rennt mit einem kopierten handgeschriebenen Zeit-/Ort-Zettel zwischen Rennbahn, Wetthalle und Biergarten hin und her, konsumiert Bier, Pizza, Kultur. Musikalisch umwerfend ist „Wozzeck. Alles Schall und Rauch“ vom Babylon Orchestra. Alban Berg wird umarmt von Weltmusik. Die Wetthalle – mit einer sehr guten Akkustik! – ist eigentlich das ideale Bühnenbild für „Wozzeck“, denkt man, wenn Stelina Apostolopoulou im scharlachroten Kleid Marie verkörpert.

Mischa Tangian passte Alban Bergs Kompositionen auf ein viel kleineres Orchestervolumen an und baute neue Instrumente mit ein. Das ergibt einen Klang, der das Original zitiert und Bergs Kompositionen neue Facetten hinzufügt. Apostolopoulou erobert sich mit Leichtigkeit die Opernklaviatur des Schönberg-Schülers. Sie reist mit Tangians Arrangements in dieser knappen Stunde zwischen Stilen, Sprachen und Ländern umher, bleibt aber immer Marie. Das schwerelos aufspielende Orchester trägt sie durch die Wetthalle.

Auf der Zuschauertribüne spielt wenig später „21 Downbeat“ und zeigt, dass Büchners Sprache einen peitschenden Elektrosound sehr gut verträgt. Ferdinand Dambecks Sprechgesang löst Gänsehaut aus. Auf den Rängen tanzt das Publikum den Wozzeck-Rave. Und die Rennbahn davor liegt im Dunkeln.

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