Blick über die Klippen einer Steilküste auf den Horizont des Meeres

Foto: Foto: Julia Druelle

Flucht über den Ärmelkanal:Schlicht die letzte Chance

An Nordfrankreichs Küste kommen globale Fluchtschicksale zusammen. Menschen versuchen hier seit 25 Jahren unter elenden Bedingungen nach England zu gelangen.

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6.12.2023, 14:57  Uhr

Der Regen hat in der Nacht ausgesetzt. Als die Sonne über dem Belfried des Rathauses von Calais aufgeht, erscheint das in diesem sturmgepeitschten Spätherbst fast wie ein unwirklicher Anblick. Die Frühnachrichten im Fernsehen zeigen überschwemmte Flächen im Hinterland. Seen, die eigentlich Äcker sind. Häuser und Schuppen, von Fluten umgeben. Straßen, durch die nun Be­woh­ne­r*in­nen und Hel­fe­r*in­nen mit dem Kanu paddeln. Am Vormittag ist es noch immer trocken, windig zwar, aber der Himmel ist blau. Vom Strand aus sind nach langer Zeit wieder einmal die Klippen von Dover zu erkennen.

Der Wind werde sich im Laufe des Tages legen, sagt der Wetterbericht. Auch die Wellen draußen auf dem Kanal sollen kleiner werden. Das bedeutet: Zwischen einem Tief, das sich aufgelöst hat, und dem kommenden, das die Vorhersage der nächsten Woche bestimmt, wird sich ein kleines Fenster öffnen für jene, die aus den Jungles, den provisorischen Flüchtlingscamps in Indus­triegebieten oder Wäldern, hinüber wollen nach England. „Es ist wahrscheinlich, dass Überfahrten probiert werden an diesem Wochenende, obwohl der Zustand der See heute noch rau ist“, bestätigt Gérard Barron per E-Mail. Er muss es wissen, als Präsident der Seenotrettungsgesellschaft SNSM im nahen Boulogne-sur-Mer.

Vier Personen in Regenbekleidung unter der Plane eines Zeltes

„Überall ducken sich Zelte in der niedrigen Vegetation“: Geflüchtete bei Grande-Synthe Foto: Julia Druelle

Ein paar Minuten entfernt vom Strand von Calais, an der Place d’Armes, nimmt man an diesem Morgen kaum Notiz von Mi­gran­t*in­nen unterwegs nach England. Der Samstagsmarkt ist in vollem Gang, die umliegenden Cafés gut besucht. Am Monument beim Parc Richelieu gedenkt eine Menschenmenge dem Endes des Ersten Weltkriegs. Hin und wieder schlurfen Gestalten über das Trottoir, tief verborgen unter Kapuzen, 60 Liter-Müllsäcke mit einigen Habseligkeiten über der Schulter. Es ist die einfachste und wohl auch einzige Art, sie in diesen nassen Wochen halbwegs trocken zu halten. Niemand schenkt diesen Menschen Beachtung.

An die Anwesenheit von Migrant*innen, die den Kanal überqueren wollen, hat sich Calais in einem Vierteljahrhundert gewöhnt. Die Küste ist ein Spiegelbild der weltweiten Kriege und Konflikte, und Großbritannien bleibt auf den ersten Blick für jene, die aus Nordfrankreich fliehen, eine Verheißung: ein gelobtes Land, in dem es genug Arbeit geben soll, um ein neues Leben aufzubauen. Daneben sind englische Sprachkenntnisse und familiäre Bindungen für viele ganz konkrete Gründe.

Hilfsorganisationen schätzen, dass sich rund 4.000 Geflüchtete allein im Großraum Calais aufhalten

Manchmal drängen die Behörden mit Hilfe von Gendarmerie und der Polizeispezialeinheit CRS die Geflüchteten aus dem Zentrum von Calais hinaus. Hilfsorganisationen schätzen, dass sich rund 2.000 von ihnen um die Hafenstadt herum aufhalten, und eine vergleichbare Zahl in der weiteren Umgebung. Oft lag die Zahl in den letzten Jahren bei etwa 1.000 Personen insgesamt. Unter den Brücken am Bahnhof stehen knapp ein Dutzend Zelte. Wer hier kampiert, versucht es meist auf eigene Faust per Lkw und kann keinen Schleuser bezahlen.

Eine Überfahrt kostet häufig umgerechnet rund 2.500 bis 4.000 Euro, manchmal aber auch knapp 6.000 Euro pro Person, abhängig vom Schleusernetzwerk, Umständen des Geschäfts und Umfang der Dienstleistung. Jene, die sich das leisten können, wissen dank ihrer Wetter-Apps auch, dass das lange Warten heute ein Ende haben wird.

Eine Grafik, die den Ärmelkanal und die Fluchtrouten von Nordfrankreich Richtung England zeigt

Was dazu führt, dass in dem Jungle bei Dunkerque an diesem Mittag eine emsige Betriebsamkeit einsetzt. In den letzten Jahren hat sich dieses Camp zum größten der Umgebung entwickelt. Oft hielten sich hier einige Hundert Personen auf, doch inzwischen sind es weit über 1.000, berichten die Hilfsorganisationen. Es liegt zwischen dem Vorort Grande-Synthe und dem Dorf Loon-Plage. Traditionell halten sich in dieser Gegend kurdische Geflüchtete auf, und es sind kurdische Netzwerke, die das Camp am Canal de Bourbourg kontrollieren.

Von der Brücke der Schnellstraße, die zum Hafen führt, eröffnet sich ein Blick über das weitläufige Gelände. Überall ducken sich Zelte in der niedrigen Vegetation. Gruppen von Menschen ziehen entlang stillgelegter Schienenstränge. Es ist unmöglich zu sagen, wer sich die Beine vertritt, wer zum nahen Einkaufszentrum unterwegs ist oder wer größere Pläne hat.

Eine Person steht auf einer regennassen Wiese in einer Pfütze

„Vielleicht verlassen manche den ‚Jungle‘, gehen zurück nach Paris. Das Leben hier ist zu hart“, so ein Bewohner Foto: Foto: Julia Druelle

Alle aber müssen ihre Schritte vorsichtig setzen, denn der Jungle hat sich in eine Wasserlandschaft verwandelt. Riesige Pfützen ziehen sich hindurch, Gräben am Rand der schlecht befestigten Wege sind vollgelaufen, manche zu kleinen Teichen geworden. Über einen davon führt eine provisorische Brücke aus zwei Einkaufswagen, die auf der Seite liegend aus dem Wasser ragen. Ein Mann mittleren Alters klettert mühsam darüber, gestützt auf eine Krücke.

Die Hütte, in der Sayed und Amir* Wasser, Snacks und Zigaretten verkaufen, steht etwas erhöht auf einem Erdhügel. Die beiden Afghanen, Mitte zwanzig und geflohen vor den Taliban, leben seit Monaten hier. Nach England wollen sie, weil ihre Asylanträge in anderen Ländern abgelehnt wurden.

Sayed, der aus Jalalabad kommt und fließend Englisch spricht, weil er einst als Übersetzer für die Amerikaner arbeiten wollte, war zwei Jahre lang in Frankreich. Amir verbrachte sechs Jahre in Deutschland. „Landkreis Lüchow-Danneberg“ präzisiert er. England ist für sie kein gelobtes Land, sondern schlicht die letzte Chance.

Eine Person hält eine rote Schwimmweste in der Hand

Die Schwimmweste eines iranischen Geflüchteten für die geplante Überfahrt Foto: Foto: Julia Druelle

Vor einiger Zeit, sagt Amir, probierten sie es also mit einem Boot. „Als es eine Panne hatte, waren wir waren schon nah an britischen Gewässern. Aber eben nur nah dran. Also waren es die Franzosen, die uns retteten und wieder zurückbrachten. Bad luck!

Drüben, auf dem Hauptweg durch das unübersichtliche Camp, ziehen Menschen durch den Matsch, sie springen von Stein zu Stein durch müll­übersäte Pfuhle oder balancieren auf Ästen. Sie tragen Schlafsäcke und Tüten, hier und da hält jemand eine Schwimmweste in der Hand. Die Sonne steht noch hoch am Himmel, als hinter der Biegung eines Pfades eine Gruppe auftaucht.

Es sind vielleicht 20 Personen, die sich zielstrebig einen Weg zwischen Büschen und Wassergräben hindurch bahnen. Viele Männer, einige Frauen, eine davon zieht ein Kind neben sich her. Sie tragen Tüten und Taschen, Rucksäcke und Decken. Aber das ist es nicht, was sie hervorhebt unter all den anderen Menschen, die an diesem noch immer windigen Novembertag durch den Jungle hasten. Das Besondere an ihnen sind ihre Mienen.

Sie zeugen von Konzentration und Anstrengung. Beide braucht es, um nicht auszugleiten auf dem tiefen Gelände, nachdem es fast zwei Wochen am Stück geregnet hat. Es ist schwer, das Gleichgewicht mit all den Gepäckstücken und das schnelle Tempo zu halten, mit dem sich die Gruppe fortbewegt. Unbewegte Gesichter ziehen vorbei, eins nach dem anderen, die Augen nach vorne gerichtet. In manchen Blicken liegt Angst. Ein junger Mann bleibt für einen Moment stehen, als er angesprochen wird. „Keine Zeit“, erklärt er. Wo er herkommt? „Iran. Teheran.“ Ob er auf dem Weg ist, um ein Boot zu nehmen? „Ja!“ Dann läuft er weiter.

„Vielleicht verlassen manche auch den Jungle und gehen nochmal zurück nach Paris. Das Leben hier ist zu hart“, spekuliert Sayed. Dann zeigt er auf seinem Handy ein Foto von der Überfahrt. Es zeigt ihn in Rettungsweste an Bord, bevor das Boot in Seenot geriet. Natürlich werden sie es wieder versuchen, aber nicht an diesem Abend. Den Preis für die Überfahrt, umgerechnet rund 2.400 Euro, hätten ihre Familien bereits gezahlt, damit sie der Diktatur und Willkür der Taliban entkommen und in Großbritannien ein neues Leben beginnen könnten. „Eltern wollen nicht irgendwann die toten Körper ihrer Kinder sehen.“

Etwas mehr als eine Stunde Fußweg nach Südwesten sieht man später an diesem Nachmittag die Kinder anderer Eltern, mit Rucksäcken bepackt, in Richtung der breiten Strände von Gravelines ziehen. Rund um das Festungsstädtchen auf halbem Weg zwischen Dunkerque und Calais legten in den letzten Monaten immer wieder Boote in Richtung England ab. Die genauen Orte wechseln häufig, um den Kontrollen der Polizei zu entgehen, die über der Küstenlinie mit ihren Dünen, Kliffs und zahlreichen verlassenen Abschnitten regelmäßig Drohnen einsetzt.

Rückenansichter einer Person, die auf einem Hocker sitzt und ein schlafendes Kleinkind in ihrem Arm trägt

Eine Familie wartet in Calais vergeblich vor einem Amt auf die Zusage für eine Notunterkunft Foto: Foto: Julia Druelle

Einer der aussichtsreichsten Gebiete zum Ablegen sind die Dunes de la Slack, die nördlich des Dorfs Wimereux beginnen. Wer es von dort probiert, findet sich meist zu Beginn des Abends am Bahnhof von Boulogne-sur-Mer ein, rund zehn Kilometer südlich.

Als es gegen 17 Uhr dämmert, sitzt eine kleine Gruppe von Eri­tree­r*in­nen seitlich des Bahnhofsgebäudes: drei Männer, zwei Frauen, drei kleine Mädchen. Neben den Trommeln einer Mini-Wäscherei mit der Aufschrift Laverie Révolution haben sie Taschen und Tüten ausgebreitet. Vor dem Bahnhof fährt eine Frau vor, die ihnen Mützen gegen die Kälte anbietet. Die Mädchen freuen sich.

Birhan*, ein Mann um die Dreißig, gehüllt in einen dunkelroten Kapuzenanorak und der Vater eines der Mädchen, ist unschlüssig, was diese Nacht bringen wird. „Vielleicht gehen wir auf ein Boot, vielleicht nicht.“ Schon zwei Mal hätten sie die Überfahrt versucht. Vergeblich. „Wir waren schon mitten auf dem Meer, aber dann ging das Boot kaputt, und die französische Küstenwache brachte uns zurück.“

Geschichten wie diese sind am Ärmelkanal Alltag. Auch wenn manche Boote es hinüber nach England schaffen, sind sie in der Regel alles andere als dafür geeignet. Sie sollen ihre Passagiere nur bis in britische Gewässer bringen, so sie die dortige Küstenwache aufnimmt.

Doch selbst das ist Glückssache, berichtet Gérard Barron von der Seenotrettungsgesellschaft SNSM: „Die Boote werden in China zusammengeklebt. Ich würde kein Kind damit auf einen See lassen. Um gegen die Strömung anzukommen, bräuchte man einen Motor von 50 PS, viele haben aber nur 25.“

Fünfzig Menschen auf einem Schlauchboot

Noch gefährlicher werden die Überfahrten, da die meisten Passagiere nicht schwimmen können und in schlechter körperlicher Verfassung sind. Weder sind sie ausgeruht, noch haben sie ausreichend gegessen. Dazu kommt, so Barron: „Die Art von Schlauchbooten, die hier eingesetzt werden, sind für zwölf Personen zugelassen, aber wir finden manchmal fünfzig darauf vor.“ Die Tendenz steigt, bestätigt die Präfektur der Region Hauts-de-France nach dem Sommer 2023: Im Durchschnitt säßen 53 Personen auf einem Boot – fast doppelt so viele wie noch 2021.

Die Mädchen in Boulogne-sur-Mer, drei, fünf und sieben Jahre alt, plappern unbeschwert vor sich hin. Sie scheinen keine Ahnung von dem zu haben, was in dieser Nacht geschehen wird. Fröhlich fotografieren sie sich gegenseitig mit der Kamera der Fotografin. Jannah*, die Älteste, erklärt, die anderen seien ihre Freundinnen. Als es dunkel geworden ist, betritt ein kurzhaariger Mann mittleren Alters die Szenerie.

Menschen laufen im Scheinwerferlicht eines Autos auf der Straße einer Kleinstadt

Menschen zwischen Boulogne-sur-Mer und Calais nach einem gescheiterten Fluchtversuch Foto: Julia Druelle

Er blickt sich um, macht mit den Fingern eine eilige Geste, als drehe er eine Zigarette, doch niemand hat Tabak für ihn. Er tritt auf Birhan zu, sie stecken die Köpfe zusammen und besprechen sich. Die Verhandlungen dauern noch, als etwa zwei Dutzend Menschen, Kapuzen auf den Köpfen und Rucksäcke auf den Schultern, den abschüssigen Weg von den Gleisen herunterkommen.

Sie sind heute offenbar besser organisiert als die Eritreer*innen. Unten beraten sie sich kurz. Dann biegen sie entschlossen um die Ecke und folgen der Straße, die in Richtung der Dünen geht. Eine Stunde später, als erneut ein Zug aus Calais ankommt, wiederholt sich die Szene. Diesmal aber schließt sich einer der Eritreer der Gruppe an. Birhan und die drei Mädchen folgen einem Mann zum Parkplatz gegenüber. Er winkt noch einmal. Aus der Dunkelheit klingt ab und zu eine Kinderstimme herüber.

Gescheiterte Übergabe

Zwei Stunden Fußweg entfernt, auf der anderen Seite des Dünengebiets, hält sich zu Beginn der Nacht eine Gruppe von etwa 25 Kur­d*in­nen abseits der Küstenstraße versteckt. In der Nähe liegt Ambleteuse, ein winziges Dorf mit einem steinigen Strand, ein Fort aus dem 17. Jahrhundert steht in der Brandung. Von dort aus soll die Gruppe später mit einem Schlauchboot in See stechen. Es geht auf Mitternacht zu. Hassan*, ein Iraner um die Zwanzig, steht telefonisch in Verbindung mit einem Mann, den er den „Boss“ nennt. Die Ansage: Um zwei Uhr werden die Schmuggler das Boot bei einem Feldweg abliefern.

Doch die Übergabe scheitert. Eine Polizeistreife taucht auf, die Beamten greifen das Boot ab und schlitzen es auf. Der Transporter der Schmuggler bleibt auf dem tiefen Gelände stecken, die Insassen können sich zu Fuß absetzen. Am nächsten Tag steht das Fahrzeug noch immer verlassen auf einem matschigen Grasstreifen neben dem Weg. Ein paar hundert Meter weiter in einem Gebüsch ist der Boden übersät mit Verpackungen und Kleidungsstücken von Menschen, die sich hier zuvor versteckt hielten. Auch eine Windel liegt zwischen dem Abfall.

Eine Stunde später erzählt Hassan die Geschehnisse an einer Straßenkreuzung in Ambleteuse, das längst in tiefem Schlaf liegt. Gemeinsam mit sechs Passagieren, die ebenfalls aus den kurdischen Teilen Irans und des Irak stammen, versuchen sie, ein Auto zu finden, das sie um diese Zeit zurück nach Calais oder am besten Dunkerque bringt, von wo aus sie zurück in den Jungle bei Loon-Plage laufen können.

Hassan, der sich tief in einen dicken Schal vergraben hat, studierte in Iran. Sein Englisch ist nahezu fließend, er ist das Sprachrohr der Gruppe. Er berichtet, sein Vater sei von den Schergen der islamischen Republik verhaftet worden, niemand wisse, wo er festgehalten werde. Sein Onkel habe dann beschlossen, ihn außer Landes zu schaffen und nach Europa zu bringen.

Der Kanal

Nur gut 33 Kilometer misst der Ärmelkanal an seiner schmalsten Stelle, der „Straße von Dover“. Seit 25 Jahren spielt sich an den Küsten von Nordfrankreich und teils auch Belgien ein Flüchtlingsdrama ab – meist ohne anteilnehmende Berichterstattung. Menschen aus Ländern wie Kosovo, Irak, Afghanistan, Syrien, Eritrea, Somalia und Sudan versuchen, aus den zahlreichen inoffiziellen Camps um die Hafenstädte Calais und Dunkerque hinüber nach England zu gelangen.

Die Überfahrt

Bis vor etwa fünf Jahren versuchten Geflüchtete meist versteckt auf einem Lkw per Fähre überzusetzen. Teilweise war auch der nahegelegene Eurotunnel, der Coquelles südlich von Calais mit Folkestone verbindet, ein gängiger Transportweg. Seit dem Winter 2018/19 geschieht der Transit meist mit Schlauchbooten, die überladen und nicht seetauglich sind. Für Schleuser ist dies in Ermangelung an legalen Routen ein lukratives Geschäft, das sich trotz vieler Verurteilungen wegen Menschenschmuggels fortsetzt.

Die Opfer

Seit 1999 sind an der britisch-französischen Grenze 384 Personen ums Leben gekommen – entweder bei Bootsunglücken, Auto- und Lkw-Unfällen – oder beim Versuch, einen solchen zu erreichen (NGO-Quelle: euromedmonitor.org). Alleine für 2023 sind bislang 19 Fälle dokumentiert, zuletzt am 22.November, als eine Frau und ein Mann in Strandnähe von einem Boot fielen und ertranken. Zwei Jahre zuvor, am 24. 11. 2021, starben bei der bisher schlimmsten Havarie im Ärmelkanal mindestens 27 Menschen. Am 12. 8. 2023 kamen sechs weitere ums Leben.

Für Hassan war es der sechste Versuch mit einem Boot, und der erste von diesem Küstenabschnitt aus. Weil dieser relativ nahe an dem Kap liegt, von dem aus der Abstand nach England am kürzesten ist, dauert es hier, wenn alles gut geht, zwei Stunden bis man britische Gewässer erreicht. Wer dort in Probleme gerät, ruft die britische Küstenwache an und wird von dieser in Dover abgesetzt. „Von Dunkerque aus sind es dagegen sechs oder sieben Stunden“, sagt Hassan. Das Risiko ist deutlich höher, doch weil die Strände im Raum Calais immer lückenloser überwacht werden, sind immer mehr Menschen bereit, dieses Risiko einzugehen.

Dazu tragen auch die Lebensumstände im Jungle bei. „Im letzten Monat gab es wegen des Wetters nur zwei Chancen auf eine Überfahrt. Nun wird es erst mal zehn Tage dauern, bis sie ein neues Boot für uns besorgen können. Bis dahin warten wir einfach im Jungle. Das Leben dort ist nicht gut. Nachts hören wir oft Schüsse in der Nähe unseres Zelts“, sagt Hassan. Dass die Schmuggler im Raum Dunkerque Waffen haben und diese sprechen lassen, ist bekannt. Auch, dass sie letzteres tun, um Menschen einzuschüchtern und auf Boote zu drängen. „Ob sie sich untereinander bekämpfen oder in die Luft schießen, um uns einzuschüchtern, weiß ich nicht. Es macht für uns auch keinen Unterschied.“

Mazar* ist ein weiterer Iraner von Anfang Zwanzig. Zu Hause arbeitete er als Barbier und in einem Restaurant. Das Land verließ er, weil seine Protestbeteiligung gegen die Regierung zu gefährlich wurde. Er kann schwimmen, überlebte deshalb einen Schiffbruch vor der griechischen Küste, bei dem 20 Menschen ums Leben kamen. Durch den Schnee in den belarussischen Wäldern schaffte er es nach Polen. Nun steht Mazar an einer Straßenkreuzung in Ambleteuse am Ärmelkanal, die Schwimmweste noch in der Hand, und telefoniert mit seiner Mutter in Iran: „Mir geht es gut“, sagt er. „Ja, ich habe einen Platz zum Bleiben. Und mir ist warm.“

Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.

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Doch warm ist es niemandem, der oder die in dieser Spätherbstnacht hier unterwegs ist. Nicht Mazar, nicht Hassan und nicht den anderen. Und erst recht nicht den Personen, die entlang der Küstenstraße immer wieder auf dem Seitenstreifen auftauchen. Manche sind in Decken gehüllt, einige nass, sie haben sich offensichtlich ans Ufer gerettet.

Drei Kinderwagen entlang der Straße

Einmal steht eine ganze Gruppe am Wegrand, die soeben von einem Polizeibus entdeckt wurde. In Sangatte, einem Dorf kurz vor Calais, kommen Menschen aus den Dünen zurück, selbst noch in Blériot-Plage. Drei Kinderwagen werden entlang der Straße geschoben. Ein Vater trägt ein Kleinkind auf den Schultern.

Auf der Ausgehmeile von Calais ist noch Betrieb. Die letzten Clubs haben gerade zugemacht, es ist kurz nach sechs Uhr morgens. Eine Massenschlägerei wogt wie eine Lawine durch die Straßen. Als die Polizei eintrifft, hat sie sich schon aufgelöst. Aufgeregt diskutieren Beamte mit den Club-Besucher*innen, die sich noch immer auf dem Asphalt drängen. Im Hintergrund zieht jetzt, kurz bevor die Sonne aufgeht, die Gruppe aus dem nahen Blériot-Plage vorbei. Der Vater trägt sein Kind noch immer auf den Schultern, doch niemand nimmt von ihnen Notiz.

In der folgenden Nacht kehrt der Regen zurück, und nach dem Wochenende schließt sich das winzige Zeitfenster für Boote nach England wieder. 201 Personen hat die französische Küstenwache bis dahin gerettet. Als es das nächste Mal aufgeht, ertrinken südlich von Boulogne-sur-Mer zwei Geflüchtete, die zusammen mit 58 anderen Menschen auf ein Schlauchboot klettern wollten.

Kurz zuvor schreiben Hilfsorganisationen einen Brief an die französische Regierung, sie warnen. Trotzten weiter große Gruppen von Mi­gran­t*in­nen in den Jungles den miserablen Wetter- und Sanitärbedingungen, würde dies „zu einer katastrophalen Situation“ führen.

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