Dunkles Kapitel in Neuruppin: Dem Vergessen entreißen

Der Anstaltsfriedhof von Neuruppin-Treskow ist zugewuchert. Hier wurden in der Nazi-Diktatur getötete Insassen aus der „Landesirrenanstalt“ bestattet.

Ort des grausamen Geschehens, ein zugewuchertes Grundstück bei Neuruppin

Ort des grausamen Geschehens: wohl im Frühjahr 2024 wird eine Informationstafel über die Geschichte des Friedhofs aufgestellt Foto: Bettina Müller

NEURUPPIN taz | Vor der berühmten Fontane-Apotheke in Neuruppin stehen Touristen. Bei dieser Apotheke handelt es sich um das Geburtshaus des Schriftstellers Theodor Fontane – die Kommune in Brandenburg trägt den Beinamen „Fontane-Stadt“. Fontane wurde 1819 als Sohn des Apothekers Louis Henri Fontane und dessen Frau Emilie in Neuruppin geboren; beide Eltern waren hugenottischer Herkunft. Auch die gelb angestrichene Kirche, die hell und wenig morbide wirkt, gibt es noch, ebenso wie andere Häuser, deren Bewohner familiäre Verbindungen zur Familie Fontane hatten.

Klar ist, dass Theodor Fontane hier der unbestrittene Star der Tourismusbranche ist, der mit dem Trend Dark Tourism nichts zu tun hat. Der Anhänger dieser Kategorie kann da zum Beispiel den Bus stadtauswärts in Richtung Haltestelle „Ruppiner Klinik“ fahren. Die war nämlich mal die städtische „Irrenanstalt“, wie man die 1897 in Betrieb genommene Heil- und Pflegeanstalt damals wenig sensibel nannte.

Freiwillig verirren sich heutige Besucher der Stadt eher nicht in das Hauptgebäude aus rotem Backstein auf dem weitläufigen Gelände. Eine Station weiter spuckt der Bus an der Haltestelle „Gutspark“ keine Fontane-Fans mehr aus, sondern nur einen Einheimischen, der in dem Ortsteil Treskow seiner Wege geht, und das in entgegengesetzter Richtung zum alten Anstaltsfriedhof.

Nach einem kurzen Spaziergang erreicht man ein dicht bewachsenes Waldstück und steht alsbald vor einer Mauer mit einem uralten schmiedeeisernen Eingangstor, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Eigentlich ist es ein friedlicher Lost Place inklusive der für solche Orte obligatorischen Graffitimalerei auf der Mauer, so könnte man meinen. Was man diesem Ort aber überhaupt nicht ansieht, ist die Verbindung zu der nationalsozialistischen Vergangenheit der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt.

Hilfeschrei aus dem Blätterdschungel

Gegen rechts: Unter dem Titel „Nie wieder ist jetzt! AfD stoppen – Gemeinschaft stärken“ wird am Freitag auch in Neuruppin gegen den Rechtsruck demonstriert. Dem Aufruf des Jugendwohnprojekts Mittendrin haben sich Fridays for Future, Schülerinitiativen und kirchliche Gruppen angeschlossen: Freitag, 26. Januar, ab 17 Uhr, Schulplatz.

Holocaust-Gedenktag: In vielen Städten bundesweit wird am Samstag, dem 27. Januar, der Opfern der Schoah, des Völkermordes an den europäischen Juden, gedacht. Das Aktionsbündnis „Neuruppin bleibt bunt“ erinnert am Denkmal für die Opfer des Faschismus am Rosengarten an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz (16 Uhr).

In Berlin wird am Samstag gleich mehrfach erinnert und demonstriert: Am Gedenk- und Informationsort T4 in der Tiergartenstraße kommt es zu einer Kranzniederlegung und einer Lesung (ab 11.25 Uhr). Im Prenzlauer Berg erinnern Antifa-Gruppen an das Schicksal der Menschen, die einst aus dem Kiez in die Vernichtungslager verschleppt wurden (Start S-Bahnhof Schönhauser Allee, 13.30 Uhr). Alle Termine auf berlin-gegen-nazis.de (epe)

Der überbordende Auswuchs der Efeuranken am Boden macht es zumeist schwer bis unmöglich, Namen auf Grabsteinen zu lesen. Irgendwann fällt der Blick auf einen exponierten Stein, der wie ein Hilfeschrei aus dem Blätterdschungel herausragt. Die Krankenschwester und Arzttochter Hildegard Meyer, geborene Schmitz, die mit dem Neuruppiner Provinzial-Obermedizinalrat Dr. Herbert Meyer verheiratet war, liegt dort begraben.

Ihr Todesdatum lässt aufhorchen: Es war der 2. Mai 1945: Die Rote Armee war bereits in die Stadt einmarschiert und hatte auch die Anstalt besetzt. Der standesamtliche Eintrag im Sterberegister der Stadt (www.ancestry.de) verrät heute, dass sich die 44-jährige Frau damals vergiftet hat.

Sie war nicht die Einzige, die in ihrer Verzweiflung den Freitod wählte, muss man bei der Durchsicht der zeitnahen Registereinträge ebenfalls feststellen, die etliche ähnlich grausame Schicksale zu Tage bringen. Zwei dieser Menschen, die sich auch mit Gift umbrachten, waren der Kreismedizinalrat Dr. med. Julius Tietz und seine Ehefrau Else. Und genau dieser Dr. Tietz war der Arzt, der Jahre zuvor auch eine äußerst unrühmliche Rolle in der Geschichte der Klinik gespielt hatte. Ein Mensch, der mit seiner Zustimmung dafür gesorgt hatte, dass viele Patienten zwangsweise sterilisiert wurden.

Legitimiert worden war diese perfide Selektion durch das am 14. Juli 1933 beschlossene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das am 1. Januar 1934 in Kraft getreten war. In Neuruppin wurde unter anderem der am 22. Juli 1906 zu Neukölln geborene Fritz Seelig Opfer dieses Gesetzes.

„Antrag auf Unfruchtbarmachung“

Eine Akte über Seelig gelangte auf verschlungenen Wegen über ein Antiquariat in das Online Archive of California (OAC). Demnach hatte man Seelig bereits im Alter von zehn Jahren als gemeingefährlich aus dem Verkehr gezogen. Er hatte sich „wie ein Tier“ benommen, das „rohes Fleisch“ verzehrte, hieß es darin weiterhin. Seelig lebte seit dem 31. Januar 1924 in der Neuruppiner Anstalt, seine ärztliche Diagnose lautete „angeborener Schwachsinn (Idiotie)“.

Die Genehmigung des „Antrags auf Unfruchtbarmachung“ seitens des Neuruppiner Erbgesundheitsgerichts datierte vom 23. November 1934, am 14. Dezember wurde es rechtskräftig. Somit wurde der „ledige und berufslose“ Seelig von Kreisarzt Dr. Tietz aufgefordert, sich binnen 14 Tagen in das Krankenhaus zu Neukölln zu begeben. Seelig wurde schließlich dem Krankenhaus Neukölln „zur Vornahme der Unfruchtbarmachung“ überstellt.

Der Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 markierte auch den Anfang der systematischen Ermordung „unheilbar Kranker“, die unter anderem von Hitlers Begleitarzt Karl Brandt und dem Leiter der Führerkanzlei, Philipp Bouhler, organisiert wurde.

Die Mordaktion wurde zur Tarnung durch mehrere offizielle Einrichtungen wie zum Beispiel die „Gemeinnützige Einrichtung für Anstaltspflege“ institutionalisiert. Sie war für die Einstellung und Bezahlung der circa 400 Mitarbeiter der „Aktion T4“ zuständig, die man nach der Adresse der zentralen Dienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4 benannt hatte.

Sechs Tötungsanstalten

Für die „Aktion T4“ errichtete man sechs Tötungsanstalten im Deutschen Reich, in denen zwischen Januar 1940 und August 1941 über 70.000 psychisch Kranke und geistig Behinderte ermordet wurden. Davon kamen circa 2.500 Patienten aus der Neuruppiner Anstalt, die zeitweise auch als Zwischen- oder auch „Sammelanstalt“ diente, vor allem für Patienten aus Berlin, die von Neuruppin aus weiter in die Tötungsanstalten wie zum Beispiel Bernburg transportiert wurden.

Der Direktor der Neuruppiner Anstalt konnte dabei nach Belieben Gott spielen, er war autorisiert, die Namen der als Arbeitskraft noch „nützlichen“ Patienten auf den Transportlisten durchzustreichen. Neben der klinischen Diagnose spielte hauptsächlich das Verhalten der Patienten und die Länge ihres Aufenthalts in der Anstalt eine große Rolle.

Der Direktor der Neuruppiner Anstalt konnte nach Belieben Gott spielen

Tatsächlich fallen bereits Anfang 1941 im Neuruppiner Sterberegister des Standesamts zahlreiche Patienten auf, die eigentlich aus Berliner Krankenhäuser kamen, unter anderem aus dem Hufeland-Hospital und dem Ludwig-Hoffmann-Hospital in Buch, aus Rummelsburg, Marzahn und Lichterfelde. Nach Ende der T4-Aktion 1941, die Hitler auf Druck von kirchlicher Seite abgebrochen hatte, hörte das Morden aber noch längst nicht auf, es wurde nämlich dezentral weiter getötet.

Auch das Grab der Haushaltshelferin Elisabeth Willkomm, die am 16. Oktober 1942 aus den Wittenauer Heilstätten nach Neuruppin verlegt worden war und dort nur vier Tage später am 20. Oktober 1942 ermordet wurde, ist auf den ersten Blick nirgendwo gekennzeichnet. Todesursachen wie „Schizophrenie“ und „Herzmuskelentartung“ in den Urkunden des Standesamts verraten heute die Mordtaten, so auch bei der jungen Frau aus Kleinmachnow.

Ein Gedenkort soll entstehen

Im Dezember 2021 entstand seitens des Instituts für Anatomie der Medizinischen Hochschule Brandenburg die Idee eines Studierendenprojekts, das sich genau mit diesen Fragen befassen soll. Es soll die Geschichte des Friedhofs aufarbeiten und ihn so dem Vergessen entreißen. Auch das Eingangsportal soll langfristig gesichert werden, ebenfalls die Wege, sodass ein Gedenkort entstehen kann.

Doch ist es wahrscheinlich, dass Menschen, die keine Medizinhistoriker oder Lost-Places-Fans sind, explizit zu dem Friedhof einer ehemaligen „Irrenanstalt“ reisen? Wollen sich manche Menschen überhaupt so anschaulich an dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte erinnern? Es ist ein schwieriges Unterfangen an einem Ort, der aber geradezu nach Erlösung durch Wissen schreit.

Ein guter Anfang ist schon einmal gemacht, voraussichtlich im Frühjahr 2024 wird eine Informationstafel über die Geschichte des Friedhofs aufgestellt.

Dann schließt sich der Kreis, wenn man zwischen all den Urkunden all jener, denen man damals das Leben nahm, auf einmal wieder auf den Namen „Fontane“ stößt. Der Verlagsbuchhändler Friedrich Fontane, ein Sohn von Theodor Fontane, wird vermutlich nichts von den Gräueltaten in der Heilanstalt gewusst haben, als er am 22. September 1941 in seiner Wohnung in der Kurfürstenstraße 2 im Alter von 77 Jahren an Altersschwäche starb.

Und die Fontane-Fans strömen weiter durch die Stadt, entlang der breiten Straßen von Neuruppin, vorbei an den hellen klassizistischen Häusern, die nichts von der dunklen Vergangenheit der Stadt erzählen können.

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