Die Wahrheit: Kunst-Epiphanien an der Zonengrenze

Kann die Documenta nach den antisemitischen Skandalen überhaupt noch in Kassel stattfinden? Oder muss sie in die Stadt der Berlinale ziehen?

Eine Skulptur von Jonathan Borofsky in Kassel.

Himmelsstürmer: Die Skulptur von Jonathan Borofsky findet bei den Kasseler Bürgern nach wie vor sehr viel Anklang Foto: Stefan Ziese/imago

Ob die „Documenta 16“ tatsächlich stattfinden wird? 2027? In Kassel? Während des Skandals der letzten Ausstellung äußerten ja nicht wenige Kunstbetriebler aus der Hauptstadt, es sei sowieso schon lange eine Zumutung, eine Weltkunstausstellung an dieser nordhessischen Milchkanne zu veranstalten.

Oft stellten sie sogar eine eindeutige Verbindung zwischen der Provinzialität des Ortes und den antisemitischen Entgleisungen her. Und spätestens durch die Berlinale-Preisverleihung wurde ja bewiesen, dass eine simplifizierende Palästina-gut-und-antikolonial-Israel-böse-und-genozidal-Propaganda auf einer Kulturveranstaltung in Berlin undenkbar ist.

Obwohl ich weiß, dass sich weder die Ausstellungsmacher, weder Ausstellende noch Besucherinnen jemals für den Ort des Geschehens interessiert haben, hier ein zutiefst provinzielles Plädoyer eines Ex-Kasselers für die Fortführung der Documenta genau dort: in Hessisch-Sibirien.

Kassel ist keine üble Stadt. Man kann da leben, arbeiten, aufwachsen, ohne traumatisiert zu werden. 200.000 Einwohner, viel Grün, viele Nachkriegsbauten. Und ein nackter Mann mit Keule auf einem Hügel. Früher lag Kassel nah an der Zonengrenze. Heute auch noch. Nur dass die Selbstschussanlagen abgebaut wurden. Alles in allem ist Kassel so mittel. Als Jugendlicher will man aber mehr als mittel. Deswegen gibt es für jeden dort Aufgewachsenen mindestens eine Documenta, die er oder sie im Nachhinein als Erweckungserlebnis interpretiert.

Denn mit jeder Documenta begann die Stadt plötzlich zu vibrieren. Und zu klingen. Kassel sprach in Zungen. 100 Tage lang. Und das nicht nur, wie sonst, in unserem randständigen Einwandererviertel. Auch in der guten Stube wurde von einem Tag auf den anderen fremd gesprochen: In der Innenstadt, in den Cafés, in den Geschäften. Englisch, Französisch, sogar Japanisch. Überall sah man Leute in absurd-exzentrischer Kleidung. Und in Zeiten, in denen niemand das Wort „non-binär“ auch nur buchstabieren konnte, begegneten wir Menschen, die wir beim besten Willen keinem der uns bekannten Geschlechter zuordnen konnten. Wir fanden es super.

Überall war Kultur. Oft spontan und überfallartig. Draußen, auf Plätzen, in Kneipen. Und dann in unseren Köpfen. Ich wünschte mir damals, dass Kassel immer so wäre. Oder mein Leben.

Und obwohl wir keinen Dunst von Kunst hatten, lernten wir sie zu verteidigen. Wir stritten mit Eltern, Tanten, Lehrerinnen, und wenn es sein musste auch mit Passanten, die sich über Outdoor-Skulpturen aufregten. Manchmal erklärten wir auch – anderen Passanten – irgendeinen Bauzaun zum Documenta-Kunstwerk und waren enttäuscht, dass das schulterzuckend hingenommen wurde.

Anders gesagt: Wenn man wirklich will, dass Kunst eine Wirkung auf Menschen hat, sollte man sie in ihrem lebensverändernden Potenzial nicht an Berlin verschwenden.

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Autor, Theater-Dramaturg, Performer und Musiker. Hartmut El Kurdi schreibt Theaterstücke, Hörspiele (DLF / WDR), Prosa und für die TAZ und DIE ZEIT journalistische und satirische Texte. Für die TAZ-Wahrheit kolumniert er seit 2001. Buchveröffentlichungen (Auswahl): "Revolverhelden auf Klassenfahrt", "Der Viktualien-Araber", "Mein Leben als Teilzeit-Flaneur" (Edition Tiamat) / "Angstmän" (Carlsen) / "Als die Kohle noch verzaubert war" (Klartext-Verlag)

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kari

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