Dada im Digitalen: Virtuelles Vorgefundenes

Was ist von Dada übrig? Eine kleine Gruppenausstellung im Kunstverein Wolfsburg interessiert sich für Spuren im Digitalen.

Eine Frau geht durch den Ausstellungsraum. Auf einem Tablet-Bildschirm davor sieht es so aus, als gehe sie an einem Objekt vorbei, das tatsächlich aber nicht im Raum steht

Zerfließende Selbstporträts: Martina Menegon, „Artist's block“ (2022) Foto: Claudia Mucha

„Vergiss nicht, dass das polemische Element in Dada stets eine große Rolle spielte“: Mit diesen Worten ermahnte der Pariser Alt-Dadaist Tristan Tzara (1896–1963) in den frühen 1960er-Jahren seinen künstlerischen Weggefährten Hans Richter (1888–1976). Da schickte dieser sich gerade an, ein Standardwerk über Dada als Kunst und Antikunst zu verfassen.

Richter relativierte: Klar, Polemik prägte die literarische Seite. In der bildenden Kunst aber war Dada ungleich radikaler, wollte nichts weniger als die völlige Umwälzung der Disziplin – ein neues Denken, ein neues Fühlen, ein neues Wissen, eine neue Wertschätzung des Zufalls, Unsinns, Banalen oder Vorgefundenen.

Das war die Mission der 1916 in Zürich aus der Taufe gehobenen Bewegung, initial um die zwei deutschen Im­mi­gran­t:in­nen Emmy Hennings und Hugo Ball. Wie aktuell ist Dada heute – nach dem internationalen Jubiläumsjahr 2016? Was ist vom Anspruch noch da – und wer oder was maßt sich an, in die bedeutungsschweren Fußstapfen zu treten?

Der Kunstverein Wolfsburg, nie vor den großen Fragen zurückschreckend, zeigt derzeit eine Gruppenausstellung mit vier Teilnehmer:innen, die Momente des Dada in der zeitgenössischen technikgestützten Kunstproduktion nachspüren will. Versammelt sind Arbeiten, die Konventionen infrage stellen, unerwartete Erlebnisse bieten, im besten Fall mit subversivem Potenzial, heißt es.

Korrektur der Kunstgeschichte

Da wäre etwa die 1990 geborene Koreanerin Eunjeong Kim, die einem Bachelor der Malerei in ihrer Heimat bis 2023 ein Studium und eine Meisterschulklasse an der HBK Braunschweig folgen ließ. Sie arbeitet nach wie vor mit der Malerei, erweitert jedoch das tradierte Medium in seiner ungegenständlichen Spielart um Bildelemente digitalen Ursprungs oder Ausdrucksformen wie Gespraytem und Collagiertem.

Die Gesamtkompositionen zerlegt sie anschließend in unterschiedliche Bildebenen, die wiederum mittels 3D-Animationen als Augmented oder Virtual Reality zu räumlichen Situationen werden, in die die Be­su­che­r:in­nen zu einem fast gesamtkörperlichen Erlebnis eintauchen können.

Oder der Österreicher Oliver Laric, 1981 in Innsbruck geboren und Absolvent der Wiener Universität für angewandte Kunst: Er greift korrigierend in die Kunstgeschichte, besser: ihre Rezeptionsgeschichte, ein. Mittels 3-D-Druck verwandelt er eine im 18. Jahrhundert durch einen britischen Sammler „kastrierte“ römische Plastik eines hellenistischen Hermaphroditen zurück in ihr ursprüngliches nonbinäres Wesen. Was einst puritanisch-heteronormative Vorstellungen sprengte, ist nun als ein flaches Relief aus Granit- und Marmormehl sowie in gleich dreifacher Ausfertigung als Multiple zu bestaunen.

Martina Menegon ist keine Unbekannte im Wolfsburger Kunstverein: Die Dozentin in der Abteilung „Transmedia Art“ an der Universität für angewandte Kunst demonstrierte schon 2019 in der Ausstellung „Snap your Identity“ die Möglichkeiten avancierter Bildtechnologien, die es den Be­su­che­r:in­nen erlaubten, etwa mit Menschenschwärmen zu interagieren, gar zu deformieren. Die dreiteilige Video-Installation der 1988 geborenen Italienerin bietet nun neuerlich eine per Touchscreen manipulierbare skulpturale Masse aus Scans des eigenen Körpers. Sie beansprucht allerdings einen konkreten Raum, die Be­su­che­r:in­nen werden wie vor einer „echten“ Skulptur bildlich erfasst.

Ihnen gegenüber stellt Menegon dann bewusst zerfließende digitale Selbstporträts, „Glitches“. Auch sie lassen sich drehen oder verformen, sind fluide Wesen – und eine selbstironische Anspielung auf Menegons aktuelles Lebensgefühl, persönlich wie künstlerisch.

„Digital Dada“ sowie „Staub & Pioniere“: bis 5. 11., Kunstverein Wolfsburg

Bernd Schulz dann bringt schlussendlich eine Prise Dada-typischen Humor und die Lust an der Täuschung ins Spiel: 1961 in Wolfsburg geboren, ist Schulz seit Langem Mitarbeiter am Ins­titut für architekturbezogene Kunst der TU Braunschweig sowie mit eigenen Lichtinstallationen beschäftigt. Seine zahllosen Iglus oder Tunnel, erzeugt aus rotationssymmetrisch bewegtem Licht und dokumentiert in extremen fotografischen Langzeitbelichtungen, sind für Schulz reale Architekturen – sie existieren ja als Bild. Und folglich dürfen sie auch als Sehenswürdigkeiten auf Google Earth und Google Maps eingeschleust werden – bis irgendjemand eine Löschung beantragt. Ein Kurzfilm dokumentiert nun die Werke im Norddeutschen oder im Hafen von Amsterdam, ihre virtuelle Existenz sowie Kommentare im Netz.

Bleibt noch die kleine Personale im Raum für Freunde des Kunstvereins: Philipp Kapitza, 1996 geboren und 2022 Absolvent der HBK Braunschweig, interessiert sich für biologische Prozesse an Orten, die vom Menschen oder durch Naturereignisse verwüstet wurden. „Staub“ steht da als Metapher für das Hinterlassene, „Pioniere“ überschreibt er die bewundernswerte Kraft mancher Pflanzen, sogar unter solch feindlichen Bedingungen Vegetationsformen auszubilden. Sie schaffen damit die Basis für komplexere Lebenssituationen, selbst wenn ihnen selbst nur selten eine lange Existenz vergönnt ist. Wie war das nochmal mit Dada?

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