Aufklärung an Schulen: Reden über den Nahen Osten

Shai ist jüdisch, Jouanna palästinensisch. Weil der Nahostkonflikt auch in Schulen stattfindet, besuchen sie gemeinsam Klassen. Wie läuft so was ab?

Stühle in einem Klassenraum

Freie Gespräche im Schulunterricht sollen für Aufklärung sorgen Foto: Tom Chance/DEEEPOL/plainpicture

Während ein paar Schü­le­r*in­nen bei Nieselregen eine Raucherpause im Dämmerlicht einlegen, trifft sich Shai mit den Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen vor dem Schulleitungsbüro der Tages- und Abendschule in Köln-Mülheim. Warmes Licht durchflutet die Mensa, in der sich währenddessen Jouanna freundschaftlich mit der Mensafrau unterhält, die ebenfalls Arabisch spricht.

Vor dem Büro der Schulleitung gibt es ein kurzes Check-up: Haben Shai und Jouanna alles, was sie für das Gespräch mit den Schü­le­r*in­nen benötigen? Man ringt um die passenden Worte, man möchte einen überschwänglichen Smalltalk vermeiden. Die Stimmung ist leicht angespannt, das Lehrpersonal hat augenscheinlich Respekt vor Shais Arbeit als jüdischer Aktivist.

Ein Kollege fragt, wie die Gefahrenlage für beide bei den vorherigen Trialogen war. Shai lockert die leichte Anspannung auf, indem er witzelt: „Jouanna hat immer Boxhandschuhe dabei. Und wenn jemand sie blöd anmachen sollte, boxt sie zu.“ Es folgt direkt ein „Nein, Spaß. Natürlich nicht.“ Das sei erst ihr zweiter Besuch im Rahmen ihrer Trialog-Reihe an Schulen in ganz Deutschland, so Shai.

Helal oder koscher

Shai und Jouanna sind dankbar für die Gastfreundschaft der Schule, der Tas. Es trudeln die Schü­le­r*in­nen zweier Klassen der Lehrerin W. ein. Es stoßen auch neugierige Freiwillige aus anderen Klassen dazu. Die Mensa füllt sich mit circa 35 Schüler*innen, die an der Tas über den zweiten Bildungsweg ihr Fachabitur nachholen. Jouanna reicht eine Tüte mit bunten Süßigkeiten rum: „Sind helal oder koscher. So, wie ihr mögt.“

Während die Schü­le­r*in­nen Platz nehmen, werden Shai und Jouanna mit frisch gebackener vegetarischer Pizza direkt aus der Mensa empfangen. „Eigentlich mag ich das gar nicht, vor anderen Menschen zu essen, die nicht mit mir essen“, raunt sie in die vollbesetzte Mensa. „Wollt ihr auch ein Stück, nehmt euch ruhig“, trägt Jouanna nach. Die Schü­le­r*in­nen lehnen schmunzelnd ab.

Einleitend betonen Jouanna und Shai, dass sie über Gefühle und Emotionen bezüglich des wiederaufgelebten Nahostkrieges reden wollen. Ihr Ziel für diesen Abend ist, einen „braver space“ zu schaffen, einen wertfreien Raum, in dem die Schü­le­r*in­nen sich ermutigt fühlen, ihre Gefühle und Emotionen mitzuteilen. Nachrichten- und Social-Media-Apps überfluten die Schü­le­r*in­nen mit sich überschlagenden Zahlen und Bildern aus Gaza.

Es vergehen keine fünf Minuten, da beziehen sich vereinzelt Schü­le­r*in­nen auf einen historischen Ursprung des Nahost­konflikts. Sie wollen die „israelische Besatzung seit über 40 Jahren“ in den palästinensischen Gebieten, den Ursprung der Hamas und das antisemitisch motivierte terroristische Attentat vom 7. Oktober rational mit historischen Fakten rekonstruieren und ergründen. Wie konnte es zum 7. Oktober kommen?

Wie konnte es dazu kommen?

Dass es dafür einen ausgiebigen Faktencheck benötige, geben Shai und Jouanna schnell zu erkennen und schreiten bedacht ein: „Wir können nicht über Daten und Fakten reden. Das können wir nicht alles verifizieren.“ Das würde den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen, denn es müsste jeder historische Einwurf geprüft werden. Jouanna erzählt, dass sie biografisch in den Nahostkonflikt involviert ist. Sie ist Deutsch-Palästinenserin, 1948 sind ihre Großeltern aus Palästina geflohen. Aufgewachsen ist sie mit ihren Eltern in einem Flüchtlingslager im Südlibanon.

Die erste Frage an die Schü­le­r*in­nen lau­tet:­ „Was fällt dir ein, wenn du Israel und Palästina hörst?“ Sie sammeln Schlagworte wie „Hass“, „Menschenrechtsverletzung“, „Krieg und Ungerechtigkeit“. Jouanna nimmt die Schü­le­r*in­nen nacheinander dran, manche von ihnen sind irritiert, ob sie oder die Sitznachbarn gemeint sind. „Entschuldigt bitte. Ich schiele ein wenig, das habe ich vom Krieg mitbekommen.“

Die Schü­le­r*in­nen schweifen schnell von der Frage ab, wollen über die täglich neuen Meldungen des Nahostkrieges sprechen. Sie möchten ihre Meinungen kundtun, darunter sowohl differenzierte als auch ideologisch gefärbte. Ein Schüler, der schnell bekennt, dass er orthodox-christlich ist, wundert sich: „Warum wird jeder Angriff auf jüdische Menschen als antisemitisch gewertet? Wenn ein Muslim angegriffen wird, spricht man ja auch nicht von einem antimuslimischen Angriff in den Medien.“

Zwei Schü­le­r*in­nen aus derselben Reihe schauen sich irritiert an, der Raum füllt sich mit Stille. Manche ziehen ihre Augenbraune nach oben. Shai hakt nach und bittet den Schüler, das zu erklären. Der Schüler verhaspelt sich, wiederholt seinen Gedanken, den er aber nicht präzise formulieren kann. „Vielleicht fragt er sich, warum Angriffe auf muslimische Menschen nicht genauso schlimm sind wie auf jüdische?“, wirft ein Schüler aus derselben Reihe ein. „Hmm, ich verstehe dich leider immer noch nicht genau. Wir können aber gerne später auf die Frage zurückkommen.“

Die Identität verstecken

Shai sitzt auf einem Hocker und ist der Part des Duos, der sich mehr zurückhält. Aus einer Beobachterperspektive schaut er interessiert und grübelnd den Schü­le­r*in­nen bei ihren Wortmeldungen zu.

Dann fragt er doch etwas: „Kennt ihr eigentlich jüdische Menschen persönlich?“ Ein Schüler, der seit Beginn aufrecht sitzt und gespannt zuhört, meldet sich hastig: „Das habe ich mich oft schon gefragt. Eigentlich weiß ich immer von meinen Freunden, welchen und ob sie einen Migra­tionshintergrund haben und an was sie glauben. Ich denke, dass jüdische Menschen ihre Identität versteckt halten. Das ist sehr traurig, dass sie das Gefühl haben, das machen zu müssen.“ Etwas bedrückt lehnt er sich in seinen Stuhl zurück. Schweigendes zustimmendes Nicken in den Reihen.

Shai Hoffmann und Jouanna Hassoun

Shai Hoffmann und Jouanna Hassoun Foto: privat, Transaidency e.V.

Jouanna steht, sucht den direkten Blickkontakt zu einzelnen Schüler*innen. Ein anderer Schüler reagiert auf die vorige Wortmeldung: „Es gibt ja auch muslimische Menschen, die eine Takke tragen, die optisch einer Kippa ähnelt. Aber man sieht eher selten jüdische Menschen auf den Straßen Kippas tragen.“

Jouanna stellt die Anschlussfrage: „Warum glaubst du, dass du wenige jüdische Menschen auf den Straßen siehst, die eine Kippa tragen?“ Der Schüler entgegnet ihr: „Sie werden sonst bespuckt werden und haben Angst vor Gewaltangriffen. Jouanna antwortet: „Genau.“ Shai kontextualisiert den Dialog von Jouanna und den Schüler*innen: „Köln hat eine große jüdische Community.“

Angst vor Gewaltangriffen

In Bezug auf die muslimische Kopfbedeckung Takke wirft Shai außerdem in den Raum, dass die AfD den Nahostkrieg für ihre antimuslimische Agenda instrumentalisiert. AfD-Politiker seien genauso antisemitische Demagogen. Es gebe nicht nur antisemitische Stimmung in Deutschland, sondern auch eine antimuslimische, das dürfe nicht unterschätzt werden.

„Ihr kennt bestimmt das Spiegel-­Cover mit Olaf Scholz mit der Aufschrift Wir müssen endlich im großen Stil abschieben‘, oder?“ Ein Schüler aus der vorletzten Reihe: „Das hatte die NPD auch auf ihren Plakaten.“ Einige drehen sich lächelnd zu ihm um. Dass es sich in Deutschland um eine rassistische Migrationspolitik handelt, da sind sich alle einig.

Shai und Jouanna zeigen, wie sehr der Krieg sie emotional angreift. Sie sind selbst Zielgruppe sowohl antimuslimischer als auch antisemitischer Anfeindungen. Jouanna gibt zu erkennen: „Wir sind keine Terroristen. Wir sind nicht alle Monster. Wir haben auch das Recht, unsere Gefühle mitzuteilen.“ Ihr Ton ist souverän. Sie und Shai bleiben standhaft.

Antisemitische und antimuslimische Stimmung

Während Shai sich wieder kurz aus der Diskussion zurückzieht, klärt Jouanna die Schü­le­r*in­nen über aktuelle Entwicklungen in der palästinensischen Politik auf. Die Fatah ist eine politische Partei in den Palästinensischen Autonomiegebieten Gaza und Westbank (Westjordanland).

„Die Fatah-Po­li­ti­ke­r*in­nen sollten das palästinensische Volk vertreten. Mahmud Abbas, ein führender Politiker der Fatah-Bewegung, hat keinen Rückhalt unter jungen Palästinenser*inner“, so Jouanna. Shai ergänzt, dass sich Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in der Westbank nicht repräsentiert fühlen von Abbas.

Den Schü­le­r*in­nen vertraut er an, dass seine Familie sehr rechts ist. Als Shai mit Men­schen­rechts­ak­ti­vis­t*in­nen in der Westbank gesprochen hat, hätte das ihn zum Nachdenken gebracht. Er hat die politische Einstellung seiner Eltern hinterfragt. Das hätte ihn zu seinem Aktivismus bewegt.

„Kurzer Check-up“, unterbricht Shai den Gesprächsfluss. „Meint ihr, ihr könnt mit uns sprechen? Ihr könnt gerne eure Gedanken uns ehrlich mitteilen, sowohl positive als auch negative. Alles cool.“ Einige Schü­le­r*in­nen recken ihren Daumen nach oben.

Gedanken ehrlich mitteilen

Manche kramen schon in ihren Rucksäcken und ziehen sich unauffällig die Jacken an. Die Uhr tickt, bald beginnt die nächste Unterrichtseinheit. Leherin W. ruft Shai und Jouanna aus der letzten Reihe zu, dass die meisten Schü­le­r*in­nen langsam zur nächsten Stunde müssen.

Kurz vor Schluss wünschen sich Shai und Jouanna noch eine kurze Feedbackrunde. Die erste Schülerin meldet sich: „Es tut gut, seine Gedanken und Gefühle in großer Runde mitzuteilen.“ Einige schließen sich dieser Meinung an. Shai und Jouanna sind zufrieden mit dem Verlauf.

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