Friesensport-EM in Ostfriesland: Nach dem Wurf geht die Pilgerei los

Teams aus Irland, Italien, Deutschland und den Niederlanden treffen sich und ein Wochenende geht es darum, wer die Kugeln am weitesten wirft.

Silke Tulk bei ihrem letzten entscheidenden Wurf bei der Friesensport-EM.

Fokus, Antritt, Kugel nach oben wegschleudern: So wird bei der Friesensport-EM das Menschenmeer geteilt Foto: Alina Götz

NEUHARLINGERSIEL taz | Auf einer Landstraße bei Neuharlingersiel in Ostfriesland holt sich die etwa zwei Meter große Holländerin Silke Tulk mit einem 250-Meter-Wurf erneut den EM-Titel. Sie springt herum und schreit immer wieder „Mannschaftsgold“ – eigentlich Nebensache, dass ihr niederländisches Team in der Gesamtwertung der Friesensport-Europameisterschaft der Frauen oben steht, knapp vor dem Friesischen Verband FKV.

Boßeln, das Norddeutsche gern mit Bollerwagen und Bier zelebrieren und in Ostfriesland ernst zu nehmender Teamsport ist, ist bei der EM nicht dabei. Hollandkugel, Eisenkugel (auch Irlandkugel genannt), Klootschießen: Die drei Wettbewerbe sind Einzelwettkämpfe. Alle Disziplinen werden mit zehn Würfen pro Ath­le­t*in entschieden. Die Unterschiede: die Kugel und der Untergrund.

Fünf Teams sind bei der Friesensport-EM dabei: Irland, Italien, die Niederlande und zwei aus Deutschland; der Friesische und der Schleswig-Holsteinische Verband. Das größte Spektakel ist die Eisenkugel, mit dem größten und schwersten Wurfgerät der drei Wettbewerbe. 800 Gramm massiver Stahl auf 5,8 Zentimeter werden am Samstag über die Straßen geschleudert. Der Wettkampf wird als einziger auf Asphalt ausgetragen – entsprechend doll springt die Kugel, entsprechend weit sind die Würfe. Tulk siegt mit fast 1.575 Metern.

Sie hatte sich bereits am Freitag bei der Hollandkugel – ein ähnlicher Wettkampf, aber auf einem Feld – mit 838 Metern Gold gesichert, sechs Meter vor Femke Wilberts vom FKV. Auch Samstag steht mit Mareile Folkens eine FKV-Athletin hinter Tulk. Wilberts wird Vierte. Am Sonntag holt Wilberts dann aber auch ihr Gold, in der Disziplin Kloot.

Gestartet waren die Frauen am Mittag, nach den Jugendlichen und vor den Männern. Doch der Wettkampf zieht sich, bis es den Teilnehmerinnen gelingt, sich durch die Massen zu schießen. „Clear the road“ und „Zur Seite“ schreien die Ord­ne­r*in­nen immer wieder. Die Zuschauermasse aber ist zäh, je­de*r will den besten Blick erhaschen auf die nächste Werferin, tastet sich vom Straßenrand vor auf den Asphalt.

Brötchenhälften und Streuselkuchen

Durch die Verzögerungen muss auch Wilberts zwischendurch auf ihren nächsten Wurf warten. Sie setzt sich in eine Einfahrt, in der es Brötchenhälften und Streuselkuchen für 1,50 Euro gibt, dehnt sich, beißt von einem Apfel ab, wiederholt ihre Wurfbewegung. Dann, für diesen einen kurzen Moment, zieht sie ihre Trainingsjacke aus und legt ihre Sachen beiseite.

Wer dran ist, markiert den Absprung, schafft sich Platz für den Anlauf. Die Trai­ne­r*in­nen stellen sich mit etwas Distanz auf die Strecke und kommunizieren mit ihren Schützlingen über die Art des Wurfes, die Platzierung auf der Straße: Fokus, Antritt, ein letztes Zulegen, bevor die Kugel nach oben weggeschleudert wird und das Menschenmeer teilt. Wie bei einem Autorennen verfolgen alle Gesichter die Kugel, wenn sie vorbeirollt. Das Gejole wirkt wie Vorwarnung an die Fans weiter weg. Einige springen der Kugel in letzter Sekunde aus dem Weg.

Gräben zwischen Straße und Feldern

Über den Gräben zwischen Straße und Feldern liegen einige Holzbrücken. Nach jedem Wurf geht die Pilgerei los, auf der Straße oder auf dem plattgetrampelten Feldrand, bevor sich wieder alle am Rand drängen. Die Fans tragen Jacken und Shirts von diversen Vereinen: Berumerfehn, Ardorf, Neuwe­steel. Sie trinken Jever aus Plastikbechern, essen Pommes, schwenken Fahnen, fachsimpeln. Das Gefühl ist Dorf – mit ein bisschen Multikulti.

Oke Goldenstein gewinnt am Samstag Bronze beim Jugendwettbewerb. Er ist mit dem Boßel-Sport groß geworden, kommt aus Stedesdorf. „Klootschießen haben wir auf dem Sportplatz mit der ganzen Gemeinde gemacht.“ Fußball hat er auch schon immer gespielt – „aber wenn Boßeln war, konnte ich nicht zum Fußball“.

„Hast du das Publikum gesehen?“, ist Silke Tulks Antwort auf die Frage, warum sie den Sport so liebt. „Hier zu werfen mit so vielen Leuten und unseren Freunden als Deutschland, Irland und Italien: Das ist, warum wir Boßeln.“ Sie trainiert täglich, je drei Mal die Woche Straße und Feld, einmal Kraft, neben der Arbeit als Lehrerin.

Friesensport-EM alle vier Jahre

Die EM wird alle vier Jahre ausgetragen – nur alle 20 Jahre findet sie also vor der eigenen Haustür statt, sagt Holger Wilken, aktiver Vereinsboßler und Sprecher des Friesischen Klootschießerverbandes FKV, der Dachverband der Oldenburger und Ostfriesischen Boßler*innen. Die Sport­le­r*in­nen sind im Jugendherbergs-Resort in Neuharlingersiel untergebracht in einer Art „olympischem Dorf“.

Holger Wilken, Sprecher des Friesischen Klootschießer­verbandes FKV

„Ostfriesen und Holländer haben Erdklumpen aus dem schweren Kleiboden trocknen lassen und damit einen Wettbewerb veranstaltet“

Dass alle teilnehmenden Länder Küsten haben, sei kein Zufall, erklärt Wilken. Früher als Kriegswaffe benutzt, entwickelte sich das Werfen der verschiedenen Kugeln zum regionalen Sport, in Friesland eben zum Klootschießen. „Das Wort Kloot ist Plattdeutsch und heißt Klumpen. Ostfriesen und Holländer haben Erdklumpen aus dem schweren Kleiboden trocknen lassen und damit einen Wettbewerb veranstaltet.“

Beim Klootschießen, bei der EM in Neuharlingersiel am Sonntag ausgetragen, wird eine 375 Gramm schwere Holzkugel mit Bleikern von der gleichen Startposition immer wieder über ein Feld geschleudert.

Werfen ist nicht langweilig

Stefan Siebolds wäre Samstag fast dabei gewesen, hat die Qualifikation aber dann doch nicht geschafft. Dabei ist er dennoch gern. „Boßler sind eine Familie, den Sport muss man lieben.“ Die Konkurrenz sitze nach dem Wettkampf zusammen, auch den Meister feiere man gemeinsam.

„Es gibt viele, die übers Boßeln geschimpft haben – bis sie dann selbst mitgemacht haben.“ Langweilig findet er das Werfen nicht. „Jede Strecke ist anders, auch die Würfe sind anders. Je nachdem, ob du 50 oder 100 Meter vor der Kurve bist, musst du die Kugel anders anschneiden.“

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