Barrierefreies Musiktheater: Musik als Ganzkörpererfahrung

Das Kollektiv [in]Operabilities will Oper auf und vor der Bühne inklusiv gestalten. „Die Insel“ war im Radialsystem zu spüren, fühlen und hören.

Zwei Performer*innen mit riesigen Fächern in den Händen

Wenn das fiktive Schiff in der Oper „Die Insel“ in See sticht, streichelt der Wind dieser Fächer das Publikum Foto: Robin Hinsch

Ein Opernbesuch setzt vieles voraus: Geld im Portemonnaie, kombiniert möglichst mit musikalischer Vorbildung, auch Grundkenntnisse in Alt-Italienisch, griechischer, römischer und germanischer Mythologie sind hilfreich. Vor allem aber muss man sehen und hören können und in der Lage sein, sich – je nach Platzlage – zu einem Sitzplatz im dritten Rang vorzukämpfen. Kurz: Oper ist nicht barrierefrei.

Das Kollektiv [in]Operabilities möchte das ändern. Mit dem Musiktheaterstück „Die Insel“ lotet das aus gehörlosen, sehenden und nichtsehenden Künst­le­r*in­nen bestehende Ensemble eine als exklusiv verschriene Kunstform neu aus.

Grundlage des Experiments ist die Oper „Rinaldo und Alcina“ der österreichischen Komponistin Maria Theresia Paradis, die vor mehr als 200 Jahren als blinde Musikerin Aufsehen erregte. Erhalten geblieben ist nur das Libretto. Es erzählt die damals beliebte Geschichte der Zauberin Alcina, die einen auf ihrer Insel gestrandeten Ritter verzaubert, sodass er in Liebe zu ihr entbrennt, bis er schließlich von seiner Geliebten befreit wird.

[in]Operabilities gestaltet dieses Libretto um – zu einem Gesamtkunstwerk für alle Sinne. Wenn das fiktive Schiff in See sticht, streichelt der Fahrtwind die Gesichter des Publikums – ausgelöst von riesigen Fächern, die die Dar­stel­le­r:in­nen durch die Luft schwingen. Lichtsignale zucken als Blitze durch den Raum, an der Decke hängende Donnerbleche imitieren Gewittergeräusche auf offenem Meer.

Den Zu­schaue­r:in­nen steigt der distinkte Geruch weißer Dämpfe aus der Nebelmaschine in die Nase, aus deren Mitte die Magierin Alcina tritt. Gespielt wird die Herrin der Insel von der gehörlosen Darstellerin Athena Lange mit eindringlichen Präsenz. In graziösen und zutiefst musikalischen Bewegungen gebärdet sie Alcinas Zaubersprüche und verlängert sie zu großen Tanzbewegungen.

Klingende Kostüme

Rinaldo, verkörpert von der blinden Tänzerin Sophia Neises, erkundet rollend, kriechend und springend den kreisrunden Bühnenraum, geht mit den Zu­schaue­r:in­nen auf Tuchfühlung und spielt auf einem Daumenklavier, das an Rinaldos Rüstung befestigt ist. Auch die anderen Kostüme klingen: Armreifen und Muschelketten klackern, Stoffe rascheln. Das Ensemble atmet laut hörbar ein und aus, stampft rhythmisch mit den Füßen, skandiert wie improvisiert wirkende Sprechgesänge: „Glücklich ist, wer Alcinas Grenzen betritt.“

Bei [in]Operabilities ist Musik eine Ganzkörpererfahrung, die man nicht nur mit den Ohren wahrnehmen kann. Das gilt auch für die eingesetzten Instrumente. Die Vibrationen von Cello und Theremin – ein elektronisches Instrument, das mit seiner langen Antenne ein bisschen an ein UFO erinnert – bringen elektronisch verstärkt den Holzboden zum Vibrieren und fahren einem von den Füßen durch alle Glieder.

Wer die Musik nicht hören kann, kann sie spüren. Auf den Monitoren an den Wänden kann man den Text mitlesen. Zugleich kann man einer akustischen Beschreibung des Bühnengeschehens lauschen, die von Sängerin Marie Sophie Richter wahlweise gesprochen oder gesungen wird, während sie sich auf dem Cello zupfend dazu begleitet. Diese überraschende Mischung aus Gebärdensprache, Audiodeskription und Übertiteln wird zu einer performativen Collage, die über verschiedene Wahrnehmungsebenen zugänglich ist.

„Die Insel“ führt vor, wie Kultur inklusiv und gemeinschaftlich erlebt werden kann, und fragt, was eine Oper eigentlich zur Oper macht. Diese Frage ist so alt wie die Kunstform selbst. Während die Opern Claudio Monteverdis um das Jahr 1600 noch dramma per musica hießen und die Gattung ganz klar unter das Primat der Sprache stellten, drehte Komponist Antonio Salieri, ein Zeitgenosse von Maria Theresia Paradis, den Spieß knappe 200 Jahre später um und ernannte die musikalische Virtuosität zum wichtigsten Element der Oper: Selbstbewusst deklarierte er das berühmt gewordene Motto Prima la musica e poi le parole.

Gemeinschaftstiftende Erfahrung

Noch heute tobt in der Fachwelt der Streit darum, was in der Oper am wichtigsten ist: Text oder Musik? [in]operabilities versucht eine alternative Antwort, die bis zu den Ursprüngen des Theaters als gemeinschaftsstiftende Erfahrung zurückgeht: Man findet sich im Kreis zusammen und erzählt ganz einfach eine Geschichte – mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Man erlebt gemeinsam die Facetten des Menschseins.

Oder wie es Lisa Sophie Richter, ans Publikum gewandt, ausdrückt: „Wir wollen eine Oper machen. Warum das? Weil uns jemand erzählt hat, dass in der Oper alle unsere Gefühle gefühlt werden dürfen. Weil es da eine Geschichte gibt, die uns erlaubt, uns zu verwandeln.“

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