Ärztliche Suizidhilfe: Im Grenzbereich des Lebens

Am Donnerstag stimmt der Bundestag über Suizidhilfe ab. Schafft es keiner der Entwürfe, brauchen Sterbewillige weiterhin Vereinsmitgliedschaften.

Die Hand einer Person liegt in den Händen einer anderen Person

In einer Gesellschaft der Hochaltrigen wächst der Wunsch nach Selbstbestimmtheit am Lebensende Foto: Daniel Reinhardt/dpa

BERLIN taz | Zum Beispiel ist da Teresa Sch., 88 Jahre alt, ehemalige Sekretärin, verwitwet. Eine Augenerkrankung raubt ihr die Sehkraft, sie wird von Arthrose in den Gelenken geplagt. Sie musste das geliebte Klavierspiel aufgeben, ist zunehmend eingeschränkt und fürchtet, in absehbarer Zeit zum Pflegefall zu werden. Sie trat vor Jahren der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) bei und nimmt ärztliche Hilfe zum Suizid in ihrer Wohnung in Anspruch.

Oder das Ehepaar Ingeborg, 83, Hausfrau, und Sigurd Sch., 87, Buchdrucker. Sigurd Sch. ist nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und hat eine schwere Darmerkrankung. Seine Ehefrau leidet unter urologischen Problemen und Gleichgewichtsstörungen. Sigurd Sch. möchte sterben, seine Frau will mit ihm gehen. Ein Arzt leistet die Doppelbegleitung.

Die Fälle finden sich in einer Dokumentation der DGHS. Soll jeder ein Recht haben, sich Hilfe, auch ärztliche Hilfe, zur Selbsttötung holen zu können? Das Bundesverfassungsgericht hat das in seinem aufsehenerregenden Urteil vom Februar 2020 bejaht. „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“, heißt es in dem Urteil. Das Gericht hatte dem Gesetzgeber aber die Möglichkeit eingeräumt, „prozedurale Sicherungsmechanismen“ zum „Schutz der Selbstbestimmung“ zu schaffen.

Der Bundestag stimmt am Donnerstag über genau solche „Sicherungsmechanismen“ ab. Zwei konkurrierende Gesetzentwürfe zur Ausgestaltung der ärztlichen Suizidhilfe liegen vor. Wenn keiner der Entwürfe bei der Abstimmung durchkommt und alles so bleibt wie bisher, wird auch das die Praxis der Suizidhilfe prägen.

Im Zentrum steht, den freien Willen festzustellen

Die Gesetzentwürfe kommen aus Gruppen von Abgeordneten verschiedener Fraktionen. Beispielsweise finden sich grüne Abgeordnete sowohl im ersten als auch im zweiten Entwurf. Die Abstimmung erfolgt namentlich. Was beide Entwürfe gemeinsam haben, ist die Pflicht zur Beratung. Allerdings in sehr unterschiedlicher Ausprägung.

Der Gesetzentwurf einer Abgeordnetengruppe um den SPD-Politiker Lars Castellucci will die „geschäftsmäßige“ Suizidhilfe, worunter man auch die wiederholte Suizidassistenz durch Ärz­t:in­nen versteht, wieder unter Strafe stellen. Nicht strafbar ist die Suizidhilfe nur dann, wenn die Ärz­t:in­nen bestimmte Regularien beachten.

Zu den Regularien gehört, dass sich jede und jeder Sterbewillige vorab zweimal einer „Untersuchung“ durch eine Psych­ia­te­rin oder einen Psychotherapeuten stellen muss, um auszuschließen, dass „keine die autonome Entscheidungsfindung beeinträchtigende psychische Erkrankung vorliegt“ und nach „fachlicher Überzeugung das Sterbeverlangen freiwilliger, ernsthafter und dauerhafter Natur“ ist, wie es im Gesetzentwurf heißt.

Im Zentrum dieser fachärztlichen Untersuchung stehe, den freien Willen festzustellen, und keineswegs gebe die Psych­ia­te­r:in „eine Bewertung des Sterbewunsches ab“, sagt Kirsten Kappert-Gonther (Grüne), die an dem Castellucci-Entwurf beteiligt ist, der taz. Mit der Verpflichtung zu zwei solchen Untersuchungen in einem Mindestabstand von drei Monaten wolle man vielmehr „einen sicheren Raum schaffen, in dem die suizidale Person mit einer unabhängigen dritten Person über ihre suizidalen Gedanken und die Lebensumstände, die zu diesen führen, sprechen kann“, erklärt Kappert-Gonther, „Suizidimpulse sind in der Regel volatil“.

Weil die ärztliche Suizidhilfe so wieder grundsätzlich unter Strafe gestellt wird, steht der Castellucci-Entwurf in der Kritik. Genau diese Strafbarkeit hatte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020 für rechtswidrig erklärt.

Der zweite, liberalere Gesetzentwurf einer Abgeordneten-Gruppe um Renate Künast (Grüne) und Katrin Helling-Plahr (FDP) will die ärztliche Suizidhilfe nicht wieder grundsätzlich strafbar machen. Er beinhaltet aber ebenfalls eine Beratungspflicht, bevor ein Arzt ein Medikament zur Selbsttötung verschreiben darf. Die Sterbewilligen sollen bei unabhängigen „staatlich anerkannten“ Beratungsstellen, die auch bei freien Trägern eingerichtet werden können, vorstellig werden. Deren Mit­ar­bei­te­r:in­nen können die Kli­en­t:in­nen auch zu Hause aufsuchen, falls diese nicht mehr mobil sind.

Kli­en­t:in­nen erhalten dann lediglich eine Bescheinigung, dass die Beratung stattgefunden hat. Die Stellen geben keine Bewertung oder Empfehlung ab. Nur wenn „begründete Zweifel“ daran bestehen, „dass die beratene Person ihre Suizidentscheidung aus autonom gebildetem, freien Willen“ treffen wird, hat die Beratungsstelle diese Zweifel auf der Bescheinigung zu vermerken, heißt es bei Künast/Helling-Plahr.

Zur Qualifikation der Mit­ar­bei­te­r:in­nen der Beratungsstellen steht nichts Konkretes im Entwurf. „Zwar verlangt der Gesetzentwurf fachliche Qualifikationen der Mit­ar­bei­te­r:in­nen in den Beratungsstellen. Deren genaue Ausgestaltung sowie die Einrichtung der Beratungsstellen obliegt jedoch den Ländern. Diese müssen auch die Zuverlässigkeit der Stellen überprüfen“, sagt Lukas Benner (Die Grünen), der an dem Entwurf beteiligt war.

Beide Entwürfe drängen auf eine Änderung im Betäubungs­mittelgesetz

Ärz­t:in­nen dürften das tödliche Arznei- oder Betäubungsmittel laut Gesetzentwurf erst dann verschreiben, wenn nachgewiesen ist, dass Kli­en­t:in­nen zuvor bei einem Beratungsgespräch waren – sie also eine Bescheinigung vorgelegt haben.

Sowohl die Künast/Helling-Plahr- als auch die Castellucci-Pläne drängen auf eine Änderung im Betäubungsmittelgesetz. Konkret geht es um die Freigabe von Pentobarbital. Das Mittel gilt in der Suizidhilfe als relativ sicher und darf in der Schweiz regelmäßig von Ärz­t:in­nen dafür verschrieben werden.

Der Künast/Helling-Plahr-Entwurf sieht außerdem Unterstützung für Sui­zid­willige vor, die vergeblich nach einem Arzt suchen. So heißt es, die Bundesländer sollen nicht nur staatlich anerkannte Beratungsstellen, sondern zusätzlich eine „nach Landesrecht zuständige Stelle“ einrichten, die eine einer „ärztlichen Verschreibung gleichstehende Erlaubnis“ zum Erwerb eines tödlichen Medikaments erteilen kann.

„Dies greift in Fällen, in denen Suizidwillige sonst keinen Arzt finden, der die Suizidassistenz leistet“, sagt Benner. Fraglich ist, ob die Länder bei diesen Plänen mitspielen. Das Gesetz ist zustimmungspflichtig im Bundesrat.

Der Künast/Helling-Plahr-Entwurf will eine Übergangsfrist von zwei Jahren für den Aufbau der Beratungsstellen. In dieser Zeit können Ärztinnen und Ärzte, die nicht direkt an der Suizid­hilfe beteiligt sind, die Beratungen übernehmen.

Die Vereine, die bisher ärztliche Sui­zidhilfe vermitteln – also die DGHS, der Verein Sterbehilfe und Dignitas – befürchten nicht, dass die Beratungspflicht ihre Arbeit einschränken würde, käme der Künast/Helling-Plahr-Entwurf durch. „Sollte der vorliegende liberale Gesetzentwurf bei der Abstimmung im Bundestag am 6. Juli die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten, wovon ich ausgehe, so tangiert dieses Gesetz nach meiner Rechtsauffassung nicht die derzeitige Praxis der DGHS“, sagt DGHS-Präsident Robert Roßbruch.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Die mit dem Verein kooperierenden Ärz­t:in­nen verwenden für die Sui­zid­assistenz ein Narkosemittel, das in Deutschland nicht verboten ist. Die Beratungspflicht dürfte bei dieser Praxis entfallen, da es sich ja nicht um eine Verschreibung handelt, sondern um eine Anwendung vor Ort im Beisein des Arztes.

Doch am liebsten wäre es den Vereinen, die ärztliche Suizidhilfe vermitteln, wenn keiner der Gesetzentwürfe im Bundestag eine Mehrheit fände. Dann würde alles so bleiben wie bisher.

Menschen ohne Mitgliedschaft in einem Verein oder persönlichen Kontakten zu Mediziner:innen, die Suizidhilfe leisten, hätten in dem Fall jedoch weiterhin Schwierigkeiten, bereitwillige Ärz­t:in­nen zu finden, die auch noch über die nötigen Kenntnisse verfügen. Und: Me­di­zi­ne­r:in­nen agieren keineswegs in einem rechtsfreien Raum. In Berlin ist ein Arzt wegen Totschlags angeklagt, weil er Suizidhilfe bei einer psychisch kranken Frau leistete. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft habe die ihre Entscheidung nicht freiverantwortlich treffen können.

Ein Fünftel gibt „Lebenssattheit“ als Motiv an

Die Vereine haben in der Regel eigene Absicherungssysteme, um die freie Entscheidungsfähigkeit ihrer Kli­en­t:in­nen festzustellen. Sie lassen sich Krankenakten kommen und führen diverse Vorgespräche mit den Suizidwilligen, um sich über deren Motive wirklich sicher zu sein. Eine längere Mitgliedschaft in den Organisationen ist Voraussetzung, die Suizidhilfe kostet ab 4.000 Euro aufwärts.

In einer Gesellschaft der Langlebigen und Hochaltrigen nimmt der Wunsch zu, sich für den Fall einer Krankheit oder Gebrechlichkeit einen Notausgang zu sichern. „Unsere Mitgliederzahl liegt derzeit bei knapp 29.000“, sagt Roßbruch, „aber nur ein kleiner Bruchteil unserer Mitglieder stellt tatsächlich einen Antrag auf Vermittlung einer Freitodbegleitung.“

Für fast ein Fünftel der Suizidenten wird in der DGHS-Statistik das Motiv der „Lebenssattheit“ angegeben, das vor allem auf sehr alte Menschen zutrifft und etwa aus einer Kombination aus Partnerverlust, wachsenden Einschränkungen, mehreren Krankheiten und Angst vor zunehmender Pflegebedürftigkeit besteht.

Von dem befürchteten „Dammbruch“ nach dem Verfassungsgerichts-Urteil vor drei Jahren kann aber keine Rede sein. Die DGHS und der Verein Sterbehilfe vermittelten im Jahr 2022 in insgesamt 366 Fällen eine Suizidhilfe mit Medikamenten. Die Zahlen steigen zwar, bleiben aber im Vergleich zu den sogenannten „harten“ Suiziden sehr niedrig: Im Jahr 2021 haben sich mehr als 9.000 Menschen in Deutschland ohne ärztliche Hilfe das Leben genommen, meist auf gewaltsame Art.

Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, anonym. Rufnummern: (0800)1110111 und (0800) 1110222.

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