Auseinandersetzung mit der Nazizeit: Erinnern um zu verhindern

Als Kind habe ich im Fernsehen Bilder vom Holocaust gesehen, die sich in mein Gehirn gebrannt haben. Wie erfährt meine Tochter von der Nazizeit?

Ein Häftlingstransport aus Ungarn trifft im November 1944 Vernichtungslager Auschwitz ein.

November 1944: Ein Häftlingstransport aus Ungarn trifft im Vernichtungslager Auschwitz ein Foto: dpa | dpa

Erschreckend wenig kann ich mich an den Geschichtsunterricht meiner Schulzeit erinnern. Das einzige, was ich mir noch wirklich bildlich ins Gedächtnis rufen kann, ist ein Mittelstufen-Lehrer, der uns mit glühenden Wangen davon erzählte, dass Polen einst die erste demokratische Verfassung Europas verabschiedete.

Ich sehe auch noch dieses Heft „Information zur politischen Bildung“ vor mir, mit meinen Notizen, und ich weiß noch, wie schwer mir das Auswendiglernen der Jahreszahlen für die Klassenarbeit fiel. Dass ich eine gute Note bekommen habe, erinnere ich zwar noch. Aber wann dieses geschichtliche Ereignis genau – oder ungefähr – stattgefunden hat (es war 1791) oder dass Polen kurz danach für über 100 Jahre von der Landkarte verschwand, daran erinnere ich mich leider nicht. Dass es mir überhaupt im Gedächtnis geblieben ist, muss einzig an der sprühenden Begeisterung meines Lehrers gelegen haben, die ihn beim Thema Demokratie ergriff.

Wann ich zum ersten Mal vom Nationalsozialismus und der Judenverfolgung erfahren habe, kann ich auch nicht mehr sagen – bestimmt waren es meine Eltern, die mit mir sprachen.

An die ersten Bilder, die ich von der Schoa sah, erinnere ich mich dagegen genau. Ich schaltete mittags heimlich den Fernseher ein, als meine Mutter mal nicht Zuhause war. Es lief eine Dokumentation über Auschwitz.

Die Bilder haben sich fest in mein Gehirn gebrannt. Eine Frau steht vor einer Mauer, sie hält ein Kind auf dem Arm, während sie erschossen wird. Berge aus Körpern, die so abgemagert sind, dass sie kaum mehr als Menschen zu erkennen sind – damals war das für mich kaum fassbarer als heute. Die Bilder verfolgten mich oft bis in meine Träume, aber ich traute mich nicht, davon zu erzählen ­– ich hatte ja schließlich unerlaubt Fernsehen geschaut.

Ich traute mich nicht, davon zu erzählen – ich hatte schließlich unerlaubt Fernsehen geschaut

Als ich meine Großmutter fragte, ob sie wirklich nichts von der Judenvernichtung gewusst hatte, machte sie nur eine abwehrende Handbewegung. Ich sollte nicht mit „ollen Kamellen“ ankommen. Ich nahm ihr das sehr übel. Wie es ihr persönlich als junge Mutter im Krieg ergangen war, das fragte ich sie nie – sie lebte ja immerhin noch.

Unser Stadtteil hat eine kleine Einkaufsstraße, die seit den 70ern den Namen „Weiße Rose“ trägt. Es gibt dort ein Mahnmal: Eine große, stilisierte Rose aus hellem Muschelkalk. Sie war der Anlass für das erste, längere Gespräch mit meiner eigenen Tochter über die Nazizeit. Olivia wünschte, dass ich ihr half darauf zu klettern, weil sie oben ihr Eis essen wollte (und bitte fragen Sie nicht, ob ich das getan habe).

Gut, dass diese Gedenkstätte nicht – wie oft gefordert – an einem besinnlichen (also abseitsgelegenen) Ort steht. Wer weiß, wie lange ich es sonst aufgeschoben hätte, meiner Tochter wirklich von diesem furchtbaren Kapitel unserer Geschichte zu erzählen. Viele ihrer Fragen konnte ich nicht beantworten, weil ich Antisemitismus oder die Existenz von Krieg und das unermesslichen Leid, was er mit sich bringt, selber nicht verstehe.

Mir haben als Kind und Jugendliche Bücher geholfen. Meine Mutter hat sie mir besorgt: „Als Hitler das Rosa Kaninchen stahl“, „Ein Stück Himmel“, und das „Tagebuch“ von Anne Frank sind mir klar in Erinnerung. Heute ist Olivia 14 und ich wünschte, dass sie diese Bücher auch kennenlernt. Ich habe sie ihr schon vor längerer Zeit als Hörbücher gekauft. Aber sie zögert. Ihre Generation wächst mit mächtigen neuen Ängsten und Fragen auf.

Ach, könnte ich doch meine Tochter behüten vor dieser Welt, in welcher der Holocaust möglich war, eine Welt, in der ein Mensch wie unser geliebter Willi – ihr eigener Bruder – nur zwei Generationen zuvor als „lebensunwert“ einfach „vernichtet“ worden wäre.

Doch nur, all das niemals zu vergessen, kann uns schützen, damit es nicht wieder passiert.

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Geboren 1973 in Hamburg. Seit sie Kinder hat schreibt die Bilderbuchillustratorin hauptsächlich Einkaufszettel und Kolumnen. Unter dem Titel „Die schwer mehrfach normale Familie“ erzählt sie in der taz von Ihrem Alltag mit einem behinderten und einem unbehinderten Kind. Im Verlag Freies Geistesleben erschienen von ihr die Kolumnensammlungen „Willis Welt“ und „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“. Ihr neuestes Buch ist das Kindersachbuch „Wie krank ist das denn?!“, toll auch für alle Erwachsenen, die gern mal von anderen ätzenden Krankheiten lesen möchten, als immer nur Corona. Birte Müller ist engagierte Netzpassivistin, darum erfahren Sie nur wenig mehr über sie auf ihrer veralteten Website: www.illuland.de

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