Landtagswahl in Hessen: Das braune Herz des Westens

NSU, der Anschlag in Hanau, Walter Lübcke: Immer wieder sorgen Rechtsextreme in Hessen für Hass und Terror. Im Wahlkampf spielt das kaum eine Rolle.

Cetin Gültekin, Bruder des Opfers Gökhan Gültekin, sitzt vor Porträts von Opfern des Anschlags

Cetin Gültekin, Bruder des Opfers Gökhan Gültekin, sitzt vor Porträts von Opfern des Anschlags Foto: Andreas Arnold/picture alliance

BERLIN taz | Peter Beuth gab sich bestimmt. Die Polizei habe nach dem Hanauer Anschlag ihre Arbeit „gut gemacht“, sagte der hessische Innenminister im Juli im Untersuchungsausschuss zu dem Attentat. Es sei nicht zu verhindern gewesen, der Täter „zu schnell, zu planmäßig“ vorgegangen. Auch der Mordanschlag auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter ­Lübcke war für den CDU-Mann nicht verhinderbar. Ob die Behörden den Rechtsextremismus unterschätzt hatten? „Das würde ich nicht sagen“, so Beuth im Untersuchungsausschuss.

Also alles richtig gemacht im Umgang mit ­Rechtsextremen in Hessen? Es gibt einige, die das anders sehen. Von Hessen als „Hotspot rechten Terrors“ spricht die Linkspartei, von einem „flächendeckenden Versagen der Sicherheitsbehörden“ im Fall Lübcke und von „Abgründen der Innenpolitik“ auch im Fall Hanau. Auch die hessische SPD sieht im Kampf gegen den Rechtsextremismus „eine ganze Reihe von Mängeln“, vor allem des Verfassungsschutzes.

Tatsächlich weist Hessen eine gewisse rechtsextreme Konti­nui­tät auf. Schon 1966 zog die NPD mit 7,9 Prozent der Stimmen in den hessischen Landtag ein – es war der erste Eintritt in ein deutsches Landesparlament, eine Serie weiterer folgte. In Hessen blieb es indes bei einer Legislaturperiode. CDU-Mann Alfred Dregger drängte die Partei mit einem Rechts-außen-Kurs zurück. 1993 waren es dann die Republikaner, die in Offenbach 15 Prozent holten oder in Frankfurt 9,3 Prozent.

Und ausgerechnet in Hessen, in Oberursel (Taunus), gründete sich am 6. Februar 2013 die AfD, die fortan bundesweit in Parlamente einzog, 2018 auch mit 13 Prozent in den hessischen Landtag. Es blieb nie nur bei verbaler Hetze. Schon 1982 taten sich in Frankfurt die Rechtsextremen Odfried Hepp und ­Walter Kexel zusammen und verübten Sprengstoffanschläge auf US-amerikanische Militäreinrichtungen im Rhein-Main-Gebiet. Als sich ab den 90ern Rechts­extreme im Blood-and-Honour-Netzwerk organisierten, gab es einen Ableger auch in Hessen, der eng mit dem Thüringer Pendant vernetzt war.

Ermittler ignorierten rechtsextremistischen Hintergrund

Aus dieser Szene ging der 1998 abgetauchte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) hervor, der eine jahrelang ungeklärte Mordserie verübte. Dessen erstes Opfer: der Blumenhändler ­Enver Şimşek aus dem hessischen Schlüchtern, ermordet am 9. September 2000 in Nürnberg. Später folgte ein NSU-Mord auch in Hessen: am 6. April 2006 in Kassel, an dem jungen Internetcafébetreiber Halit Yozgat. Am Tatort war auch ein Verfassungsschützer, Andreas Temme. Warum, ist bis heute nicht geklärt. Für die Terror­serie sahen auch hessische Ermittler jahrelang keinen rechtsextremen Hintergrund.

Am 2. Juni 2019 folgte dann der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Der rechtsextreme Täter benannte als Motiv den Einsatz des CDU-Manns für die Aufnahme von Geflüchteten. Einen guten Monat später schoss ein anderer Rechtsextremer in Wächtersbach einen Eritreer nieder, das Opfer überlebte schwer verletzt. Am 19. Februar 2020 ermordete ein Rassist in Hanau neun Menschen, danach auch seine Mutter und sich selbst. Und als die Bundesanwaltschaft vor einigen Monaten bundesweit gegen terrorverdächtige Reichsbürger vorging, wurde der mutmaßliche Anführer in Frankfurt/Main festgenommen: Heinrich Prinz Reuß. Auch in Heppenheim und Wetzlar gab es Festnahmen.

Die Aufzählung zeigt: Das rechtsextreme Bild ist diffus geworden. Es protestierten auch rechte Pegida-Ableger in Hessen, später reihten sich Rechtsextreme auch in Coronaproteste ein. Zugleich flogen rechts­ex­tre­me Chatgruppen innerhalb der hessischen Polizei auf. In einer davon, Titel „Itiotentreff“, zogen die Beamten über Juden, Geflüchtete oder Menschen mit Beeinträchtigung her. Aufgeflogen war die Gruppe im Rahmen von Ermittlungen zur NSU-2.0-Drohserie, bei der Daten einiger der Bedrohten zuvor auf hessischen Polizeirechnern abgerufen wurden. Warum? Auch das ist bis heute nicht geklärt.

An einen Zufall glaubt Çetin Gültekin nicht. „Die Taten passieren immer wieder in Hessen, weil Nazis hier große Freiräume haben“, sagt der 49-Jährige, dessen Bruder Gökhan beim Hanauer Anschlag erschossen wurde, „weil Politik und Polizei beim Thema Rechtsextremismus immer wieder versagen.“

Bericht zu Hanau erst nach der Landtagswahl

Gültekin verfolgte den Untersuchungsausschuss zum Hanau-Attentat, war immer wieder vor Ort. Warum durfte der Attentäter Waffen besitzen? Warum war der Polizeinotruf in der Tatnacht überlastet? Warum war der Notausgang verschlossen? Warum wurden Angehörige abschätzig behandelt? Für Gültekin hat sich in allen Punkten Behördenversagen bestätigt. „Aber eingestanden wurde das immer erst, als es nicht mehr anders ging“, beklagt er. „Und Konsequenzen gezogen wurden keine. Das ist total enttäuschend.“

Gültekin ärgert auch, dass der Ausschuss seinen Abschlussbericht erst nach der Landtagswahl vorlegen will. Schwarz-Grün hatte erklärt, dass man das Thema aus dem Wahlkampf heraushalten wolle. Nicht nur Gültekin hätte aber genau dort gerne „die Kette des Versagens“ im Fall Hanau thematisiert gesehen. Mehrere Angehörige fordern nun weitere Aufklärung mit der Kampagne „Kein Abschlussbericht“ ein. „Wir werden weiter laut sein“, sagt Gültekin.

Auch zum Lübcke-Mord tagte ein Untersuchungsausschuss. Auch hier ging es um Fragen, warum der Attentäter Stephan Ernst mit Waffen trainieren konnte, warum der Verfassungsschutz ihn vor der Tat als ungefährlich eingestuft und nicht mehr beobachtet hatte. Aus heutiger Sicht sei das ein Fehler gewesen, kon­sta­tier­te der Ausschuss. Indes, auch hier herrschte Uneinigkeit, am Ende legten die Fraktionen neben dem Abschlussbericht gleich drei Sondervoten vor. Was Familie Lübcke von der Arbeit der Sicherheitsbehörden hielt, machte ihr Anwalt im Prozess klar: Einen wehrhaften Staat habe es im Fall Lübcke nicht gegeben, dem Verfassungsschutz warf er ein „Komplettversagen“ vor.

Auch die hessische Politik steht immer wieder in der Kritik. Nach dem NSU-Mord an Halit Yozgat lehnte es Volker Bouffier, damals Innenminister und später CDU-Ministerpräsident, ab, dass V-Leute direkt von Ermittlern befragt werden – wegen Quellenschutzes. Zusammen mit den mitregierenden Grünen sperrte sich die CDU später gegen einen Untersuchungsausschuss, stufte eine NSU-Akte zunächst für 120 Jahre als geheim ein. Von den sechs beteiligten Polizisten an der „Itiotentreff“-Chatgruppe sind fünf zwar freigestellt, aber bis heute weiter im Dienst – bei laufenden Bezügen.

Rechtsextremismus im Wahlkampf kaum Thema

Nach dem Hanauer Attentat stellte sich Beuth sofort vor die Polizei, besuchte bis heute nicht die Opfer. „Beuth hat alles immer schöngeredet, er hat uns ignoriert oder verhöhnt“, klagt Gültekin. Inzwischen erklärte Beuth seinen Rückzug zum Ende der Legislatur.

Im Wahlkampf ist der Rechtsextremismus indes kein Thema. SPD-Spitzenkandidatin und Bundesinnenministerin Nancy Faeser geißelt die Parolen der AfD und die wacklige Brandmauer der CDU. Ein zugespitztes Wahlkampfvideo zu dem Thema ließ Faeser zurückziehen. Es ließ die CDU erzürnen. Sonst aber taucht das Problem Rechts­ex­tre­mis­mus höchstens am Rande auf. Die SPD verspricht im Wahlprogramm hierzu einen Ak­tions­plan, die Grünen ein hessisches Demokratiefördergesetz und die CDU den Ausbau einer Sonderermittlungsgruppe bei der Polizei. Darüber diskutiert wird kaum.

Für Reiner Becker ist das Bild differenziert. „Tatsächlich gibt es eine bedrückende rechtsex­treme Geschichte in Hessen“, erklärt der Leiter des Demokratiezentrums Hessen. Dennoch will Becker nicht von einer bundesweiten Hochburg sprechen. Anderswo sei der Rechtsex­tre­mismus strukturell stärker. Momentan gebe es fast keine Neonazikameradschaften mehr, der AfD-Landesverband gehöre zu den schwächeren, und die NPD sei derart in der Krise, dass sie zur Wahl gar nicht antrete, sondern zur Stimmabgabe für die AfD aufrufe. „Die Rechtsextremen sind trotzdem weiter da. Die Gefahr ist nicht weniger, sondern unübersichtlicher geworden“, erklärt Becker. „Vieles wird von der AfD absorbiert.“

Die Politik sei aber auch nicht gänzlich untätig gewesen, so Becker. Seit dem Lübcke-Mord geht die Sonderermittlungsgruppe der Polizei, die „Besondere Aufbauorganisation“, gegen die Szene vor, das Waffenrecht wurde verschärft, nach dem Chatskandal das Frankfurter SEK aufgelöst. „Diese Maßnahmen waren auch unumgänglich“, betont Becker. „Nun muss der Druck hoch bleiben.“

Tatsächlich könnte die AfD am Wahlabend zweitstärkste Kraft werden. Nach den Verboten der rechtsextremen Hammerskins und Artgemeinschaft durch Innenministerin Faeser rückten Polizeikräfte auch in Hessen aus, so gegen den früheren hessischen NPD-Chef Marcel Wöll. Gültekin begrüßt die Verbote. Aber es macht ihm Angst, dass die Fälle immer wieder auftreten. „Was muss noch passieren, damit hier die rechts­ex­tre­me Gefahr gebrochen wird?“

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Am 19. Februar 2020 erschoss der Rechtsextremist Tobias R. an drei verschiedenen Tatorten in der Hanauer Innenstadt neun Menschen:

Kaloyan Velkov, ermordet mit 33 Jahren.

Fatih Saraçoğlu, ermordet mit 34 Jahren.

Sedat Gürbüz, ermordet mit 30 Jahren.

Vili Viorel Păun, ermordet mit 22 Jahren.

Gökhan Gültekin, ermordet mit 37 Jahren.

Mercedes Kierpacz, ermordet mit 35 Jahren.

Ferhat Unvar, ermordet mit 22 Jahren.

Hamza Kurtović, ermordet mit 22 Jahren.

Said Nesar Hashemi, ermordet mit 21 Jahren.

Später ermordete der Attentäter seine Mutter Gabriele R., 72 Jahre alt.

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