Philosoph über Wahl in Frankreich: „Le Pen hat keine Chance“

Der französische Intellektuelle Geoffroy de Lagasnerie kritisiert, die Medien stellten den Front National ins Zentrum. Er fordert einen neuen Fokus.

Wahlplakate auf einer Hauswand

Wahlkampf an einer stillgelegten Fabrik in Hayange Foto: dpa

taz.am wochenende: Monsieur de Lagasnerie, wer gewinnt die französischen Präsidentschaftswahlen?

Geoffroy de Lagasnerie: Das Problem ist, dass alle nur noch strategisch wählen und wir uns kaum noch fragen, was wir eigentlich möchten. Wir sollten diese Frage vermeiden und stattdessen neue Dynamiken für die Linke entwickeln – mit einem sozialistischen Kandidaten oder Jean-Luc Mélenchon.

Dennoch ist es ja unwahrscheinlich, dass der linke Jean-Luc Mélenchon oder gar Benoît Hamon, der Kandidat der Sozialisten, gewinnt.

Die Medien und Intellektuellen haben uns ein Narrativ auferlegt, das besagt, dass es eine Stichwahl zwischen Marine Le Pen und Emmanuel Macron geben wird. Marine Le Pen wird die Wahl nicht gewinnen. Das alles ist eine pure Mystifikation, die benutzt wird, um uns daran zu hindern, eine innovative linke Alternative auszuarbeiten.

In einem Artikel haben Sie geschrieben, die Achse Valls–Macron ekele Sie an. Gehen Sie überhaupt zur Wahl?

Ich gehe immer zur Wahl. Ich finde diese Art ontologischer Beziehung zu Wahlen total falsch, also die Vorstellung, nur jemanden wählen zu können, mit dem man ganz übereinstimmt. Gerade so als sei meine ganze soziale und kritische Identität in diese Geste involviert. Für mich geht es beim Wählen eher um eine taktische zynische Geste.

Was heißt das?

Dass es nicht darum geht, für mich zu wählen, sondern im Namen derer, die nicht das Recht haben zu wählen, Migrantinnen, Kinder etc. Meine Stimme kann benutzt werden, um sie in den Staatskörper eintreten zu lassen.

Philosoph und Soziologe. Seit 2013 ist er Professor für Philosophie an der École Nationale Supérieure d’Arts in Cergy. 2015 veröffentlichte er zusammen mit Édouard Louis ein „Manifest für eine intellektuelle und politische Gegenoffensive“. Er twittert unter @gdelagasnerie

Wofür steht Macron?

Ordnung, Gehorsam und Hierarchie. In jedem Aspekt des sozioökonomischen Lebens ist er immer für den Abbau jener Systeme, die die Menschen vor sozialer Gewalt schützen. Er will das Arbeitsrecht aufheben – die Arbeiterrechte beschneiden und die Arbeitgeberrechte stärken –, um die Klassenordnung zu stärken. Er will die allgemeine Wehrpflicht einführen. Und in einem Gay-Magazin auf mehr Rechte für die Transgender angesprochen, antwortete er, das sei sehr kompliziert, weil mehr Rechte für Transgender eine Provokation für das französische Seelenleben bedeuteten.

Was soll das sein?

Damit stigmatisiert er alle Transgender als Fremde. Es gibt die sogenannte französische Psyche, aber Transgender gehören da nicht dazu. Man muss seine Verbindung zur christlichen Spiritualität ernst nehmen. Das ist der Zirkel um die Zeitschrift Esprit, die mit dem Linkskatholizismus verbunden ist. Macron fühlt sich ihnen sehr verbunden und teilt die Refle­xio­nen über französische Identität. Seine Aussage war sehr gewalthaft.

Viele begrüßen, dass er sich weder rechts noch links einsortiert.

Ja, das sagt er selbst. Es soll revolutionär sein, dass er keiner Partei angehört, sondern ein charismatischer Mann sein möchte, der direkt mit dem Volk kommuniziert. Er findet, der Egalitarismus sei das Hauptproblem Frankreichs. Wer glaubt ernsthaft, dass es in Frankreich zu viel Gleichheit gibt? Wenn wir diese Logiken zusammenführen – direkte Kommunikation mit dem Volk ohne Bürokratie und Technokratie, der Imperativ der Ordnung und die Idee eines homogenen Seelenlebens – nun ja, ich halte ihn natürlich nicht für einen Faschisten, aber.

Aber?

Ich glaube, er gehört zum selben politischen Modus, der Le Pen überhaupt möglich macht. Sie sind zwei Gesichter des selben Moments.

Aber am Ende macht es schon einen Unterschied, ob Le Pen oder Macron …

Absolut. Macron glaubt an den Rechtsstaat, an Europa, an Demokratie. Le Pen ist von echten Nazileuten umgeben, Macron von Bankern, alten Sozialisten, rechten Neoliberalen – das ist keine homogene Gruppe. Es wäre ein Fehler zu glauben, es wäre egal, unter wem man lebt. Für Migrantinnen und Geflüchtete wäre Macron besser. Aber er spielt mit Affekten, bestimmten Leidenschaften und einer problematischen Rhetorik.

43 Prozent der Arbeiter wählen FN. Im deindustrialisierten Norden Frankreichs gibt es Orte, in denen 70 Prozent FN wählen. Die Altersgruppe ab 65 wählt ihn weniger, dafür 35 Prozent der Jüngeren. Es wird immer behauptet, die fühlten sich alle abgehängt.

Wir sollten aufhören, den FN zum Subjekt zu machen. Die Medien und Intellektuellen sind so fasziniert vom Populismus der äußersten Rechten, dass sie ständig über ihn sprechen. Damit installieren sie ihn im Zentrum unserer politischen Realität. Dasselbe sehen wir bei Trump. Wir vergessen immer, dass er doch die Wahl verloren hat. Er hat fast drei Millionen Stimmen weniger als Clinton. Und Wilders: In New York, Paris, Berlin, auf allen Titelseiten sah man ihn, und dann hat er nicht mehr als 13 Prozent bekommen. Also warum sprechen wir ständig über ihn und nicht über die Grünen, Linken, Konservativen? In Österreich und den Niederlanden haben die Menschen gegen den Populismus gewählt. Wir müssen das Drehbuch ändern und das Szenario verlassen. Marine Le Pen hat keine Chance zu gewinnen. Warum behauptet man es trotzdem?

Warum?

Damit wir am Ende glücklich sind über einen rechten konservativen Kandidaten. So war es in den Niederlanden. Da wird unsere Angst regiert. Lassen Sie uns nicht über die FN-Wähler sprechen, sondern über die vielen, die nicht wählen können und tatsächlich Ausgeschlossene sind. Menschen, die den FN wählen, tun dies, um repräsentiert zu werden. Das ist ein sehr gewaltvoller Akt. Aber was ist mit den Schwarzen, den Arabern in der Banlieue, die sich ausgeschlossen fühlen?

Zwei Drittel der 18- bis 24-Jährigen, die wählen könnten, tun dies nicht. Die sind nicht alle ausgeschlossen.

Sie erkennen sich nicht in den Diskursen und ihren Vertretern wieder. Es gibt in Frankreich keine schwarzen Kandidaten, keine arabischen und nur eine Frau. Und die ist Marine Le Pen. Das politische Feld ist geschlossen, deshalb wollen viele auch nicht wählen.

Ist die Rede von den Abgehängten letztlich auch eine Mystifikation? Schließlich macht sie vergessen, dass auch die Mittelklasse FN wählt.

Ja. Es handelt sich um eine Allianz aus verschiedenen Klassen. Hier gibt es kein einheitliches Subjekt.

Hat die Linke ihren eigenen Autoritarismus, ihre eigene Xenophobie nicht auch übersehen? Die KPF war ja alles andere als frei davon.

Die Linke hat sich zu lange ausschließlich auf die soziale Frage konzentriert. Für arabische und schwarze Jugendliche beispielsweise ist die Polizeigewalt in Frankreich das Hauptthema, wenn es um die Konstruktion ihrer Subjektivität geht. 87 Prozent der jungen Araber werden mindestens einmal jährlich in den Straßen kontrolliert, aber nur 14 Prozent der Weißen. Die Konfrontation ist alltäglich und hat starke Auswirkungen auf ihre Art, sich im öffentlichen Raum zu bewegen, sich sicher oder legitim in ihm zu fühlen. Sie sind immer Verdächtige. Es gibt Millionen junger Araber und Schwarzer in Frankreich und weder die Sozialisten noch die KPF haben das Thema Rassismus erkannt, das ist einer der großen Fehler der Linken. 77 Prozent der Menschen in französischen Gefängnissen sind schwarz oder arabisch. Ihre Beziehung zum Staat stellt sich oft darüber her, dass sie einen Bruder im Gefängnis haben oder schon mal festgenommen wurden. Das kann ein Leben lang prägend sein.

Andererseits behaupten viele Linke, die einseitige Fokussierung auf Identitätspolitik heute liege bereits im französischen Poststrukturalismus begründet.

Das ist auch so eine Mystifikation. Slavoj Žižek und Alain Badiou betreiben sie. Wie reproduzieren sich denn die Klassen? Arbeiterkinder verlassen die Schule früher und gehen in die Fabrik und die Kinder aus der Bourgeoisie und der Mittelklasse in die Elite. Jungs haben doch vor allem deshalb einen Widerstand gegen die Schule, weil es immer noch als mädchenhaft gilt, gute Zensuren zu haben. Männlichkeit in der Arbeiterklasse heißt, die Schule abzulehnen, kulturell uninteressiert zu sein, Muskeln zu entwickeln und Männlichkeit zu zeigen. Sie übernehmen damit Männlichkeitsdefinitionen, die sie aus dem Schulsystem ausschließen und schließlich denselben Job wie ihre Eltern machen lassen. Also ist doch die Frage der sozialen Reproduktion mit den Männlichkeitskonstruktionen verbunden. Eine Identitätspolitik für mehr Rechte für Schwule beispielsweise kann diese Formen von Maskulinität dekonstruieren und die Definitionen verändern und somit auch einen Effekt auf die Idee haben, dass es o. k. ist, eine gute schulische Ausbildung zu machen. Es gibt diese Verbindungen zwischen Identitätspolitik und der Forderung nach sozialer Gleichheit.

Mit dem Schriftsteller Édouard Louis haben Sie ein viel beachtetes Manifest veröffentlicht, in dem es heißt, in der Literatur und Wissenschaft Frankreichs gebe es die Tendenz zur Depolitisierung.

Das steht in Verbindung zu einer konservativen Revolution im kulturellen und intellektuellen Feld in den 80ern und 90ern, als die letzten großen Figuren der kritischen Theorie gestorben sind – Foucault, Bourdieu und Derrida. Sie verbanden ihr Denken mit einer radikalen Praxis. Nach ihrem Tod gab es eine Neuordnung der akademischen Ordnung, die sich mit der Idee verband, unter Kollegen zu bleiben, die Wissenschaft nicht mit Engagement zu verbinden. Auch in der Literatur gibt es die Idee, dass die Rezeption literarisches Können mit politischem Engagement verwechseln könnte. Das hat auch viel mit der neoliberalen Ideologie zu tun.

Inwiefern?

Man ist besessen von diesem Thema. Und es gibt die Vorstellung, dass größtmögliche Autonomie Widerstand gegen das Neoliberale bietet. Also machen sie Literatur um der Literatur willen, Kunst um der Kunst willen und Wissen um des Wissens willen. Nutzlos und sauber zu sein wird als Widerstand gegen die neoliberale Agenda gesehen. Diese Autonomisierung und Professionalisierung ist ein Weg, den öffentlichen Raum zu verlassen.

Die Rechten hingegen sind sehr präsent in den Medien.

Sie sind nur reaktiv gegenüber der Linken. Die rechten Diskurse haben keinen Autor. Und die Rechten sind keine Intellektuellen.

Was ist ein Intellektueller?

Jemand, der versucht neue Diskurse zu gestalten und den Konsens verlässt.

In Frankreich werden Sie als Hoffnung auf den nächsten öffentlichen Intellektuellen gehandelt. Sie erfüllen dieses Bild durch das Manifest, das Sie verfasst haben, gut. Stört Sie nicht die Vorstellung von intellektueller Führerschaft und Aufklärung, die in der Form des Manifests enthalten ist?

Ich glaube an die Figur des Intellektuellen. Es gibt eine Verbindung zwischen dem Wissen, der Linken und dem Intellektuellen. Jeder Diskurs, der die Idee des Intellektuellen dekonstruieren möchte, ist ein konservativer Diskurs. Die soziale Welt macht uns zu Subjekten. Wir internalisieren unbewusst ihre Kategorien, und uns ist oft nicht bewusst, was uns zu einem politischen Subjekt macht. Wir brauchen Intellektuelle und Wissen, um uns bewusst zu machen, was wir nicht sehen.

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