Folgen der Apartheid in Südafrika: „Keine Versöhnung ohne Heilung“

Nomarussia Bonase arbeitet mit Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben – und dafür noch immer nicht entschädigt worden sind.

Nomrussia Bonase steht lachend vor einer grauen Wand

Nomarussia Bonase wurde für ihr Engagement mit dem Anne-Klein-Frauenpreis ausgezeichnet Foto: David Oliveira

taz: Frau Bonase, warum ist Ihre Arbeit wichtig?

Nomarussia Bonase: Weil wir eine Wiedergutmachung fordern, die nie stattgefunden hat. Südafrika, die Nation, trägt ein weißes Kleid, aber darunter ist sie verrottet. Man sagt der Welt: Alles ist gut. Aber das ist es nicht. Die Opfer der Apartheid wurden nicht entschädigt. Und ihre Kinder, die Generation der Zukunft, auch. So bleiben wir ein Land der Opfer, außer wir arbeiten dagegen. Besonders weil viele Frauen nicht darüber sprechen können, was ihnen passiert ist.

Was haben die Frauen erlebt?

Nehmen Sie das Beispiel meiner Geburt. Ich wurde zum Opfer gemacht, als ich noch im Schoß meiner Mutter war. Mein Vater war ein Minenarbeiter, der nachts gearbeitet hat. Meine Mutter musste per Gesetz in einem anderen Teil des Landes leben und durfte meinen Vater nicht besuchen, denn das Ziel der Apartheid war, die volle Kraft der Männer zu nutzen, ohne dass Frauen sie ablenkten.

Meine Mutter besucht also verbotenerweise meinen Vater und versteckt sich auf einer Farm. Während der Nacht führt die Polizei eine Razzia durch, eine Jagd nach Illegalen. Sie traten die Tür ein, vergewaltigten meine Mutter und ließen sie blutend zurück. Erst am Morgen fand mein Vater sie, noch immer blutend. Er dachte, dass sie eine Fehlgeburt haben würde, denn sie war im achten Monat schwanger. Aber ich überlebte.

Wie gehen Sie damit um?

Die Gewalt gegen meine Familie und viele andere ging immer weiter. Aber es gab nie eine Aufarbeitung. Wir wissen aber: keine Versöhnung ohne Heilung, keine Heilung ohne Kompensation. Deswegen machen wir Aktivisten weiter. Für die Zukunft müssen wir unsere eigene Vergangenheit kennen. Man muss mit den Wunden umgehen, um die Nation zu heilen.

Hat die Regierung nach 1994 nicht genau das versucht?

Die Frau: Nomarussia Bonase wurde 1966 geboren, sie wohnt im Thokoza Township nahe Johannesburg.

Die Organisation: Sie ist National Coordinator bei „Khulumani” und engagiert sich dort besonders für Frauen, die nicht von der Wahrheits- und Versöhnungskommission (1996–1998) gehört wurden und denen Gerechtigkeit und Reparation zustehen sollten.

Die Auszeichnung: Die Heinrich-Böll-Stiftung ehrte sie „als Kämpferin für Frauenrechte und Gerechtigkeit in Südafrika“ mit dem Anne-Klein-Frauenpreis 2017.

Oh, sie hat die Wahrheits- und Versöhnungskommission einberufen, ja. Die Täter sollten vorsprechen und um Vergebung bitten. Während dieser Zeit haben wir, als gewöhnliche, nicht privilegierte Überlebende der Apartheid, gedacht: Die wollen alle Täter sprechen. Was ist mit den Opfern? Warum wurden sie nicht gerufen? Diese Täter, wen bitten die denn um Vergebung? Nur die Leute im Parlament? Ist das Gerechtigkeit? Also wurde Khulumani gegründet. Khulumani, das heißt, „frei seine Meinung sagen“. Wir müssen erst über uns selbst sprechen, um darüber reden zu können, was für die Versöhnung getan werden kann.

Viele Frauen können nicht frei sprechen. Auch weil die, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, noch immer stigmatisiert werden. Einige davon kommen deswegen zu Ihnen.

Tausende Frauen kommen zu Khulumani. Sie kommen mit ihrem Schmerz, und ich höre ihnen zu. Wir sprechen über das, was in der Vergangenheit passiert ist, was noch immer passiert, über die Nachwehen der Vergangenheit. Aber es kommt die Zeit, in der eine Frau nicht mehr reden kann. Sie weint und sie weiß, dass etwas in ihr ist. Aber sie kann nicht davon erzählen, weil der Schmerz nicht zu ertragen ist. Damit beginnt die Heilung.

Was machen Sie dann?

Weil ich wissen muss, was in dieser Person ist, lasse ich sie zeichnen. Beim Zeichnen beginnt die Erlösung von den Schmerzen. Durch ihre Kunst erinnert sich die Frau an das, was sie mir nicht sagen konnte. Die ersten Bilder der Frauen zeigen oft sexualisierte Gewalt. Doch manchmal ist das so schmerzhaft, dass sie es nicht mal zeichnen können. Deswegen zeichnen sie auch die Auswirkungen, etwa ihr Leben mit HIV. Durch die Zeichnung kommt die Gewalt raus – auch die, die sich in ihren Familien abspielt. Diese gezeichneten Geschichten dokumentiere ich.

Sie legen die Geschichten auch Untersuchungsausschüssen vor, wie etwa dem zum Marikana-Massaker 2012. Damals erschossen Polizisten an einem einzigen Tag 34 Menschen während eines Streiks, angeblich aus Notwehr.

Ja, damit hat es angefangen, mit den Witwen der Minenarbeiter, die während dieses Streiks erschossen wurden. Das alles war eine Nachwehe der Apartheid, denn die Männer haben für mehr Lohn und Sicherheit gestreikt. Und nun saßen diese Frauen in der Untersuchungskommission, sahen die Bilder der Erschießungen und brachen in Tränen aus. Sie konnten es nicht ertragen.

Das war der Moment, in dem ich angefangen habe, sie zeichnen zu lassen. Jetzt können sie darüber sprechen, was in ihren Herzen ist. Schließlich waren sie in der Lage, ein Memorandum zu verfassen. Jetzt liegen der Kommission ihre Geschichten vor. Und die Frauen gingen gestärkt und als vereinte Gruppe aus dem Erlebnis hervor.

Zeichnen Sie selbst?

Auch ich zeichne für meine Heilung.

Was beschäftigt Sie?

1993 kam es im Gebiet East Rand zu extremer Gewalt. Tage wurden zu Wochen, Wochen wurden zu Monaten und Monate wurden zu Jahren der politischen Gewalt. Zu dieser Zeit starben viele Menschen. So viele, dass die Leichenhallen überfüllt waren.

Um was ging es bei den Kämpfen?

Rivalisierende Parteien des Widerstands kämpften gegeneinander, dann kam auch noch die Regierung hinzu. Es war ein Kampf innerhalb und gegen die Bevölkerung. Hunderte Menschen starben. Während dieser Zeit wurde auch mein Bruder getötet. Er lag in diesen Massen von Toten. Frauen sollten sich damals hinsetzen und trauern, wenn jemand starb.

Die Männer gingen herum und gaben alle Informationen weiter: Was ist geschehen? Wo ist der Körper? Ich wusste nur, dass mein Bruder getötet worden war. Denn ich hatte gesehen, wie er von Soldaten erschossen wurde und wie sie seinen Körper auf einen Van der Armee warfen. Aber die Männer sagten immer nur, dass sie nicht herausfinden konnten, wo sein Körper sei. Zwei Wochen lang.

Was haben Sie unternommen?

Ich stand auf und sagte, dass ich losgehen und ihn finden würde. Die Männer versuchten, mir das zu verbieten, mit ihrem typischen Blabla. Aber ich sagte: Ihr wart zwei Wochen draußen und habt ihn nicht gefunden, also lasst jetzt mich machen. Sie wollten es mir nicht erlauben. Als sie dann ein Taxi zur Leichenhalle nahmen, folgte ich ihnen und ging nach ihnen in die Halle. Als sie mich sahen, sagten sie: Nomarussia, du bist in der Leichenhalle, obwohl du das nicht darfst, aber bist du denn wirklich in der Lage, zu ertragen, was hier los ist? Ich sagte nur: Eine muss meinen Bruder ja finden.

Haben Sie ihn gefunden?

Die Hallen waren voll, absolut voll. Deswegen waren die Leichen nach draußen gebracht worden, aber auch da war es überfüllt. Sie lagen übereinander. Ein Netz über dem Außenbereich warf Schatten auf die Körper. Und nachdem man sie dort hingepackt hatte, war das Einzige, was sie kühlte, ein Wasserschlauch.

Man konnte bereits sehen, dass die Insekten die Körper der Menschen fraßen. Ich musste an all diesen Hügeln vorbeigehen und genau hinsehen. Dann erkannte ich den Leichnam meines Bruders: an seinem Fuß! Ganz unten in einem Hügel von Leichen, da sah ich ihn.

Was taten Sie?

Ich sagte: Bitte helft mir. Lasst uns all diese Leichen vom Berg schaffen. Das ist der Fuß meines Bruders. Dann haben wir den Haufen abgetragen. So konnten wir ihn beerdigen. Die meisten anderen wurden in anonymen Massengräbern begraben. Wir nennen sie die Verschwundenen. Wenn ich meinen Bruder nicht gefunden hätte, würde ich noch immer so über ihn sprechen wie viele andere Frauen, die noch immer krank sind vor Sorge um ihre Verschwundenen, ihre Lieben.

Woher nehmen Sie die Stärke?

Die Stärke kommt aus meinem Körper. Die Person, die mir am meisten geholfen hat, stark zu sein, war mein Vater. Er nannte mich den Anführer der Familie. Und das gab mir diesen Mut. Auch zu den Treffen der Männer holte meine Familie mich immer dazu, obwohl Frauen traditionell nicht daran teilnehmen dürfen. Ihnen war wichtig, was ich zu sagen hatte. Wenn ich in der Gegend bin, organisieren die Chiefs Treffen mit mir.

Sind sie noch wütend?

Während wir gegen die Apartheid gekämpft haben, oh, da war ich wütend! Aber danach starben Menschen während der ersten freien Wahl . . .

. . . weil sie eine „falsche“ Partei unterstützten und Attentaten zum Opfer fielen?

Ja, nur weil sie selbst entscheiden wollten, wen sie wählen. Da habe ich erkannt, dass nichts aus Wut heraus getan werden darf. Wir müssen kreativ sein und Lösungen finden, und wir müssen die Seelen und Augen der Menschen öffnen. Wir müssen Diskussionsplattformen schaffen, Plattformen des Zuhörens. Wir müssen mit Individuen, Gruppen und Gemeinschaften umgehen, um die ganze Nation zu transformieren.

Wie versuchen Sie die Politik davon zu überzeugen?

Wir sagen ihnen: Wir, die Bürger, die Entscheidenden, wir er­zählen euch jetzt, was bei uns los ist. Wir bitten sie, an die Tür zu klopfen und nach der Richtung zur Lösung zu fragen. Zu ­diesem Ort müssen sie selbst gehen. Aber unsere Regierung kann vieles, nur nicht zuhören.

Hat Ihre Arbeit eine Chance?

Khulumani ist der Schoß einer Frau: Dort werden Menschen geheilt und können beginnen, zu wachsen. Dieser Schoß ist unsere Zukunft.

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