US-Polizei erschießt Zwölfjährigen: Den Finger am Abzug
Der tödliche Schuss auf einen vermeintlich bewaffneten Jungen zeigt erneut: Die US-Polizei ist nicht fähig zur Deeskalation. Schon gar nicht bei Schwarzen.
Tamir Rice (12) saß auf einer Schaukel, als ein Passant am Samstagnachmittag den polizeilichen Notruf 911 wählte. „Der Typ, ein Jugendlicher, hantiert mit einer Pistole“, sagte der Anrufer, „es ist wahrscheinlich eine Attrappe. Aber er macht den Leuten Angst.“
Wenige Minuten später hatte Tamir Rice, der mit seiner Schwester auf den Spielplatz in Cleveland, Ohio, gekommen war, eine echte Kugel im Bauch. Eine Polizeikugel. Am Morgen danach, es war der Sonntag, starb der Zwölfjährige im Krankenhaus.
Nach Darstellung der Polizei hat Tamir Rice nicht – wie von den Beamten verlangt – die Hände hochgenommen, sondern sein Hemd hochgezogen, und eine Hand zu der „BB-Gun“ an den Gurt geführt. Darauf schoss ein Polizist zwei Mal auf ihn. „Der Beamte hatte keine Ahnung, dass er 12 war“, sagte der Chef von Clevelands Polizeivereinigung, Jeff Follmer, später. „Er hatte keine Ahnung, dass es eine Spielzeugpistole war. Er war schockiert. Und er hat sich mehr auf die Hände als auf das Alter konzentriert“. Polizeisprecherin Jennifer Ciaccia fügte hinzu, das Spielzeug habe einer halbautomatischen Waffe täuschend ähnlich gesehen.
Nach dem Vorfall setzte die in solchen Fällen übliche polizeiliche Routine ein: Die beiden Polizisten bekamen bezahlten Diensturlaub, einer von ihnen ging mit einer Verletzung am Fußgelenk ins Krankenhaus, und möglicherweise tritt auch in Cleveland demnächst eine Grand Jury zusammen, um darüber zu urteilen, ob die Polizisten das Richtige getan haben.
Seit Ferguson wird alles anders beurteilt
Unter normalen Umständen wäre es dabei geblieben. Und der Tod auf dem Spielplatz wäre eine Meldung in den lokalen Medien in Cleveland geworden. Eine Statistik in einem Land, in dem die Polizei alljährlich zwischen 461 (Pew-Forscher Conrad Hacket) und 538 (Projekt „Killed by the Police“) Menschen erschießt. Zum Vergleich: In Deutschland erschießt die Polizei dem Pew-Forscher zufolge im selben Zeitraum acht Menschen.
Doch Ferguson hat den nationalen Kontext verändert. Die Protestbewegung, die dort nach den tödlichen Polizeischüssen auf Mike Brown entstanden ist, hat dafür gesorgt, dass die vielen polizeilichen Gewalttaten quer durch das Land nicht mehr isoliert – wenn überhaupt – diskutiert werden. Sondern als ein nationales Phänomen.
Natürlich ist es eine zusätzliche Herausforderung für die Polizei, wenn Kinder mit Geräten spielen, die wie echte Schnellfeuerwaffen aussehen. Aber überraschend ist das nicht. Schließlich sind die USA das Land mit der höchsten Schusswaffendichte der Welt. Hier ist Schusswaffenbesitz ein Grundrecht. Haben große Supermärkte Regale voller echter Munition und Waffen im Angebot. Und halten Eltern quer durch das Land es für erzieherisch wertvoll, ihre Kinder schon im Grundschulalter mit auf den Schießplatz zu nehmen und an echten Waffen auszubilden.
Das Opfer war schwarz
Der Tod in Cleveland, und natürlich auch der Tod eines anderen unbewaffneten jungen Mannes in New York, der am vergangenen Donnerstag von einem Polizisten in seinem Treppenhaus erschossen worden ist, werfen vor allem neue Schlaglichter auf die Unfähigkeit der Polizei in den Vereinigten Staaten, ihre Arbeit gewaltfrei zu erledigen. Zu deeskalieren. Situationen einzuschätzen. Zu verhandeln. Angemessen zu reagieren.
Sie haben den Finger am Abzug. Das ist das Problem von Cleveland, von Ferguson und von New York.
Der zwölfjährige Clevelander würde noch leben, wenn die Polizei ihn – wie auch sein Vater am Tag seines Todes gesagt hat – mit einer Elektroschockpistole außer Gefecht gesetzt hätte, anstatt scharf auf den Jungen zu schießen. Und vermutlich würde er auch noch leben, wenn er eine andere Hautfarbe gehabt hätte.
Denn – wie die überwiegende Mehrheit aller Opfer polizeilicher Gewalt in den USA – war auch Tamir Rice schwarz.
Leser*innenkommentare
HP Remmler
Die NRA hat anlässlich der regelmäßigen Schulmassaker auch immer die gleiche "Lösung" parat: Jeder Lehrer, jeder Hausmeister (und am besten gleich jeder Schüler) muss bewaffnet sein, dann wird der Amokschütze rechtzeitig erschossen, bevor die Zahl der Opfer so hoch ist, dass es das Trauerspiel in die Abendnachrichten schafft. So gesehen wäre es eigentlich nur konsequent, nun auch die 12-jährigen, die auf dem Spielplatz rumlungern (vermutlich weil sich die Eltern keine Playstation leisten können), richtig zu bewaffnen, nicht bloß mit Spielzeugpistolen. Dann hätte die Polizei immerhin einen Grund, noch schneller zu schießen als ohnehin schon. Ist halt Kultur, "Land of the Free" und so.
Dass die Amerikaner mit diesem Waffenwahnsinn jemals aufhören ist in etwa so wahrscheinlich wie ein Tempolimit in Deutschland - oder ein weiblicher Papst.
Martin Fierro
Der Vorfall ist natürlich dramatisch, andererseits war niemand dabei, auch nicht Frau Hahn, die altklug von "Deeskalation" spricht. Wenn jemand mit einer Waffe vor mir herumfuchtelt und auch nicht hört, wenn ich "Hände hoch!" rufe, sondern mit der Waffe herumfuchtelt oder Anstalten macht, nach einer Waffe zu greifen, dann ist es wohl normal, dass ich nicht anfangen kann zu verhandeln oder meinen potentiellen Mörder zu besänftigen. Nicht, wenn ich nicht mit einer schusssicheren Weste ausgestattet bin. Das Problem ist ein ganz anderes: Es ist die Verrohung einer Gesellschaft, die von morgens bis abends von Gewaltexzessen im Fernsehen berieselt wird und abtumpft, wenn Blut spritzt und Körperteile durch die Gegend fliegen.
Ute Krakowski
@Martin Fierro Ach, ich dachte immer, die haben Schusswesten bei der Polizei?
KarlM
@Ute Krakowski Und? Solche Westen decken nur einen kleine Bereich ab und sind ebstenfalls "beschusshemmend" oder untragbar in alltagssituationen.
NurMalSo
Solang in den USA dieses und ähnliches Zeugs verkauft wird
http://thepoliticalcarnival.net/2013/05/01/babys-first-gun-my-4-12-year-old-daughter-thought-the-pink-one-was-far-superior/
kommt es sicher immer wieder zu solchen "Missverständnissen"
Ute Krakowski
Das ist echt hard Stuff!
Kommentar gekürzt. Bitte beachten Sie unsere Netiquette.
Franz Vege
Waffen sind nicht gut. man muß fairerweise aber auch sagen, dass sich die Amerikaner anders als die staatsgläubigen Deutschen nicht einfach von Kriminellen ausplündern lassen wollen. während der treudoofe Deutsche hofft, dass ihn Merkel und die Polizei schützen, sind die Amerikaner skeptisch gegenüber dem Staat und schützen sich lieber selbt mit Waffen.
Martin Fierro
@Franz Vege Vor dem Hintergrund, dass Länder und Kommunen an Polizei sparen und die Zahl der Kriminalität steigt, ohne dass Politiker etwas dagegen tun (siehe Drogenhandel im Berliner Görliter Park) und sich die Bürger unsicher und alleine gelassen fühlen, ist es eine Frage der Zeit, bis auch bei uns amerikanische Verhältnisse herrschen. Selbstjustiz hat ja schon teilweise auch in DE begonnen.
Dudel Karl
Das heißt, daß der deutsche Staat trotz allem noch besser funktioniert als der US-amerikanische: Dorten muß man sich offenbar allein schon zum Schutz vor der Polizei bewaffnen.
Die Anzahl der Hoplopathen steigt allerdings auch im Schland.
Ein alter Kauz
Scheußlich. Auch wenn die absoluten Zahlen für sich selbst stehend nichts aussagen, selbst im Verhältnis zur weit größeren Einwohnerzahl der USA betrachtet, zeigen die ca 500 Toten in den USA eine weit höhere Polizeigewalt auf als die 8 in Deutschland. Und dann der rassistische Hintergrund... Anscheindend haben einige unter den weißen "Amerikanern" wenig dazugelernt, seit sie als Kolonialisten erst die Ureinwohner an den Rand des Aussterbens drängten und dann Sklaven aus Afrika importierten. Und jedes Mal, wenn ein Polizist einen Schwarzen, sei's gar ein Kind, erschossen hat, da werben sie um Verständnis für den armen, gestressten, traumatisierten, überforderten Kollegen, der nur das richtige tun wollte und im Eifer des Gefechts falsch urteilte. Es mag ja vielleicht auch in manchen Fällen so sein, dass dem Schützen - man kennt ihn ja nicht - als Person aus den genannten Gründen Mitleid gebührt; dann aber ist er im falschen Beruf! Und absolut kein Verständnis kann man für eine Behörde haben, die solche Leute einstellt und ihnen Waffen in die Hand gibt. Und das, glaubt man ihrer ständigen Werbung um Verständnis, offenbar mit System!
Hendrik Buhr
Land of the free, home of the brave.
Für Grundrechte müssen halt Opfer gebracht werden.
Blöd nur, daß die Opfer meistens schwarz sind.
'S hat halt n Geschmäcke.
@Peter Shaw: Aber muß man deswegen die komplette Wahrnehmung ausschalten und sofort tödlich zielen?
"Schauen, einschätzen, handeln" wird durch einfaches "handeln" ersetzt.
warum_denkt_keiner_nach?
"Aber muß man deswegen die komplette Wahrnehmung ausschalten und sofort tödlich zielen?"
Wenn man sich neuere amerikanische Krimiserien anschaut, könnten man denken, dass das Erschießen von Leuten ganz normal ist. Man führt danach ein kurzes Gespräch mit dem Polizeipsychopathen, der bestätigt einem, dass alles in Ordnung ist und weiter geht der Dienst.
Häufig kann man kaum noch unterscheiden, an welchem Ende der Pistole der größere Verbrecher ist. Wenn sich das die echten "Cop's" zum Vorbild nehmen, kommt so etwas heraus.
1714 (Profil gelöscht)
Gast
Erschreckend in diesem Zusammenhang ist, dass niemand ernsthaft in der US Gesellschaft gegen solche Ballermann-Tendenzen angeht. Jeder Versuch in diese Richtung wird übelst vereitelt. Noch schlimmer ist es, dass sowohl dort als auch hier (im Forum) Kritik daran als unpatriotisch oder USA Hass diffamiert wird.
Christian_72
"Der zwölfjährige Clevelander würde noch leben, wenn die Polizei ihn – ... – mit einer Elektroschockpistole außer Gefecht gesetzt hätte, anstatt scharf auf den Jungen zu schießen. Und vermutlich würde er auch noch leben, wenn er eine andere Hautfarbe gehabt hätte." Er würde allerdings auch noch leben, wenn ihm niemand eine Spielzeugpistole gegeben hätte.
Dudel Karl
@Christian_72 Er würde auch noch leben, wenn nicht ein Vollidiot die Bullen gerufen hätte.
D.J.
Gast
@Dudel Karl Hmm, Sie würden natürlich nicht die Polizei rufen, wenn jemand vor Ihrem Haus mit einer Pistole, die nach Pistole aussieht, hantiert? Ihre Arroganz ist manchmal schwer erträglich.
Dudel Karl
„Der Typ, ein Jugendlicher, hantiert mit einer Pistole“, sagte der Anrufer, „es ist wahrscheinlich eine Attrappe. Aber er macht den Leuten Angst.“
Was für ein Feigling, was für gestörte Leute sind denn das? Lassen sich von einer Spielzeugpistole in Panik versetzen, obwohl sie wissen, daß es eine solche ist?
In Amerika ist es demanch wohl leicht, mit jemandem fertig zu werden: Ruf einfach die Polizei und sage "Da ist jemand mit einem Kochlöffel bewaffnet". Dann erledigen die Cops gratis, wofür man früher mal nen Killer anheuern mußte.
peter shaw
wieso sind die leute gestört...? er sagte 'wahrscheinlich' und die waffe sah 'täuschend echt' aus...
und bewaffnete jugendliche dürften in cleveland nichts unvorstellbares sein.
warum_denkt_keiner_nach?
"...und bewaffnete jugendliche dürften in cleveland nichts unvorstellbares sein."
Das ist das eigentliche Problem. So lange zu viele Amerikaner glauben, Waffenbesitz hätte etwas mit Freiheit zu tun, wird sich nichts ändern.