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Einwanderungsgesellschaft Deutschland Özdemir statt Erdoğan

Warum haben eine halbe Million in Deutschland lebende Menschen dem Diktator Erdoğan zu weiteren fünf Jahren an der Macht verholfen?

In Deutschland lebende Türkinnen und Türken stehen Schlange, um ihre Stimme für die Stichwahl um das türkische Präsidentenamt abzugeben dpa

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 23.05.2023 | „Ich habe Erdoğan gewählt, weil er groß ist“, sagt unser Parkgärtner. „Ich fühle mich an seiner Seite auch größer.“ Da ist er nicht der einzige: Von den 1,5 Millionen wahlberechtigten Türken, die in der Bundesrepublik leben, haben sich knapp die Hälfte (48,7 Prozent) an der Wahl beteiligt. Davon haben 65,5 Prozent Erdoğan gewählt, das ist fast eine halbe Million.

Erdogans Politik ist militaristisch – er führt in Syrien Krieg gegen die Kurden, hält ganze Teile des Landes besetzt und spielt mit dem Gedanken, diese Gebiete zu annektieren. Seine Politik ist nationalistisch – er arbeitet offen an der Wiederherstellung des Osmanischen Reiches und seiner Hegemonie im Nahen Osten. Seine Politik ist autoritär – freie Meinungsäußerungen sind gefährlich. Politische Kritik und politische Gegner werden mit Gefängnisstrafen unterdrückt. Erdoğan inszeniert sich als Rais, als Führer des sunnitischen Islam. Er bekämpft säkulare Tendenzen. Er reagiert gegen westliche Interessen, verhindert bis heute den Beitritt Schwedens zur Nato und bedroht militärisch seinen Nato-Nachbarn Griechenland wegen Ölvorkommen in griechischen Hoheitsgebieten. Erdoğan benutzt zudem seine Macht, um sich, seine Familie und seine Unterstützer zu bereichern.

Warum haben eine halbe Million in Deutschland lebende Leute dem Diktator Erdoğan zu weiteren fünf Jahren an der Macht verholfen?

Die Ältesten von ihnen sind vor über 40 Jahren als Gastarbeiter, wie man damals sagte, in die Bundesrepublik gekommen. Sie waren hier nicht willkommen, obwohl sie für den Wohlstand und den Erfolg der deutschen Gesellschaft gebraucht wurden. Viele wollten auch nicht bleiben. Sie arbeiteten und schafften ihr Geld in die Türkei, kauften dort Wohnungen und Häuser. Sie bauten sich ein doppeltes Zuhause. Eines für die Gegenwart des Geldverdienens in der Bundesrepublik und ein anderes für eine Zukunft des erfolgreichen Nachhausekommens in der Türkei. Sie mussten für dieses geteilte Leben ihre Wurzeln, ihre Traditionen, die sie häufig aus den ländlichen, nie modernisierten Regionen in der Türkei mitgebracht hatten, weder in Frage stellen noch aufgeben. Sie mussten sich nicht integrieren oder assimilieren, die deutsche Sprache lernen auch nicht.

Schon bald folgten den Männern ihre Frauen und Kinder. Weitere Kinder kamen dazu. Aus den Arbeiter-Wohnheimen ging es in Wohnungen mitten unter die Deutschen. Die Kinder mussten in die Schulen. Die Wirklichkeit des deutschen Alltags stellte die Frage des Hierbleibens oder des Zurückkehrens immer wieder neu. Sie mussten entscheiden, ob sie für ihre Kinder die Chancen eines Lebens in der westlichen Kultur nutzen sollten oder nicht. Die Familien, vor allem die Mütter, die am Anfang kaum Deutsch sprachen und auch ihre sich meist schnell einlebenden Kinder waren fortlaufend mit den Zumutungen der Aus- und Abgrenzung konfrontiert. Viele türkische Familien lebten hin- und hergerissen zwischen nicht hier- und fremd bleiben wollen und den Chancen eines westlichen Lebens.

Rückkehr oder Integration

Wie in allen Einwanderungsgesellschaften hat sich im Lauf der Jahre die türkische Community aufgespalten in einen die Integration vollziehenden Teil und einen an den alten Werten und den Traum von der Rückkehr festhaltenden.

Erstere nutzten die Chancen, mit ihrer Einbürgerung alle Entwicklungswege für sich und ihre Familien zu öffnen. Das war nie einfach, aber es spricht für sie und auch für die Bundesrepublik, dass sie dennoch erfolgreich waren. Es gibt unter ihnen heute erfolgreiche Unternehmer, immer mehr Gymnasiasten, Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Professoren, Ingenieure, Polizisten, Journalisten und Politiker.

Die anderen sehen ihr Leben hier weiter als nur vorübergehend. 386.000 haben die doppelte Staatsbürgerschaft, viele andere nur den türkischen Pass. Sie vertrauen Erdoğan und seinem Versprechen, als Türken von seiner Macht profitieren zu können. Sie leben in Deutschland, aber in Abstand zu den Werten, die hier gelten.

Auf sie wird keinerlei Druck ausgeübt, sich und ihr Denken deutschen Normen anzuverwandeln. Diese demokratische Toleranz und Liberalität führen im Alltag des Zusammenlebens zu Konflikten. Da ist das Machogehabe türkischer junger Männer, da sind die Auseinandersetzungen über das Kopftuch in Schulen und Ämtern, das Elend für türkische Frauen bei Zwangsverheiratungen, die Ehrenmorde, Clanstrukturen und vieles andere. Erdoğan befördert aktiv die innere Distanz seiner Anhänger zur deutschen Gesellschaft, die sich ihrerseits gegen diese aggressiven Formen der Ablehnung westlicher Lebensart und demokratischer Kultur nur zögerlich wehrt.

Es fällt auf, dass die weit über eine Million Deutsche türkischer Herkunft diesem Verhalten nur passiv zuschauen. Dabei könnten sie, zum Beispiel, unter Jugendlichen offensiv dafür werben, im Alter von 18 Jahren den türkischen Pass abzugeben und sich auf die deutsche Staatsbürgerschaft festzulegen.

Die Entscheidung der rot-grünen Koalition von Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die doppelte Staatsbürgerschaft radikal einzuschränken, war als offizielles Angebot zum endgültigen Dazugehören keine ausländerfeindliche Diskriminierung, sondern der richtige Weg. Bei allem Unverständnis über die Erdoğan-Wähler in Deutschland: Vor dem Hintergrund der Leistungen und Erfolge, die dieses Integrationsangebot ausgelöst hat, sind die Stimmen für Erdoğan zwar trotzig und hilflos, aber wenig bedeutsam.

Aber das Ziel muss sein, dass der eingangs erwähnte Parkgärtner sich eines Tages nicht durch Erdoğan „größer“ fühlt, sondern durch Özdemir. Das wär's doch.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.