Vom Reformer zum Revolutionär: Wer hat Angst vor Karl Marx?

Kaum SPÖ-Parteivorsitzender, hat die Jagd auf Andreas Babler begonnen. Dabei will er doch den brüchig gewordenen Gesellschaftsvertrag schützen.

Graffiti von karl Marx, der in einen Mülleimer greift

Karl-Marx-Graffiti der Künst­le­r:in Marycula, gesehen in Berlin im Dezember 2020 Foto: Emmanuele Contini/imago

Die Wahl des Vorsitzenden der österreichischen Sozialdemokratie war bekanntlich etwas holprig. Um das Mindeste zu sagen. Ein Psychoanalytiker meinte gar, der Irrtum bei der Auszählung sei eine Fehlleistung gewesen. Eine Partei, die sich nicht wirklich entscheiden kann, wählt erst den einen und dann den anderen. Was aber seit dieser (Nicht-)Wahl passiert, bringt diese fehlende Entschlossenheit nun auf paradoxe Weise hervor.

Kaum Parteivorsitzender, hat die Jagd auf Andreas Babler schon begonnen. Es haben sich, scheint’s, alle Kräfte zu einer Hetzjagd gegen­ ihn verbunden: Politik als Jagdgesellschaft.

Das Paradoxon besteht nun darin, dass ausgerechnet dies ihn glaubwürdiger macht. Je mehr man ihn hetzt, desto überzeugender wirkt Babler. Gerade die Angriffe lassen ihn als das erscheinen, was er sein möchte. Sie machen klar: Babler gilt als etwas Anderes. Jahrelang sprach man in Österreich von der SPÖVP wegen der Ununterscheidbarkeit der beiden Parteien. Und genau weil er als Differenz wahrgenommen wird, gilt Babler als Bedrohung.

Die ÖVP hat diese Bedrohung klar benannt: Mit Babler habe die SPÖ die Mitte verlassen und sich an den äußeren linken Rand geschoben. Darum geht’s also bei der Jagd: die Mitte zu hüten. Ihre Mitte. Diese scheint so unschuldig: Mitte – das ist das Normale. Aber wer definiert sie? Wer bestimmt, was normal ist? Mitte ist eine Herrschaftsform, ein durchgesetzter Konsens.

Wen kümmert beim Halali-Blasen das Marx’sche Denken?

Mitte ist auch das, was nicht verändert werden darf. Außer undeklariert: wenn etwa der Sozialstaat nach und nach nicht mehr zur Mitte gehört. Oder wenn die FPÖ salon-, also mittefähig gemacht wird. Die Mitte ist das, was vorgibt, dass alles in Ordnung sei – bis auf das, was am Rand ist, etwa Migranten. Nicht in Ordnung ist also das, was nicht dazugehört zur Mitte.

Nun ist aber längst nicht mehr alles in Ordnung. Und während dieser Konsens der Mitte immer brüchiger wird, während die Leute sich ihr Leben nicht mehr leisten können, während die sozialen Verwerfungen täglich greifbarer werden, wird Babler als Revolutionär gejagt. Wie sehr muss sich die Mitte schon verschoben haben, wenn seine sozialdemokratischen Forderungen schon als revolutionär gelten!

Wo doch Babler durch Reformen gerade das schützen möchte, was brüchig ist: den bestehenden Gesellschaftsvertrag. Aber weil jede Verschiebung der Mitte unerwünscht ist, wird der Reformer, der er sein möchte, als Revolutionär stigmatisiert.

Karl Marx kam der Jagdgesellschaft da wie gerufen. Denn Babler hat sich in Interviews zu Marx „bekannt“. Etwas stotternd: einmal rein zustimmend und paar Stunden später par­tiell ablehnend. Zustimmend zu Marx als „gute Brille, um auf die Welt zu schauen“ – ablehnend gegenüber einer „Diktatur des Proletariats“. Seitdem steht Marx im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Während Journalisten sich in „Marxismus in 3 Minuten“- Erklärungen überbieten, dient er den politischen Gegnern als Steilvorlage. Was kann die Jagd besser befeuern als ein dämonisierter Karl Marx? Babler = Marx = Nordkorea, lautet die Parole. Wen kümmert beim Halali-Blasen das Marx’sche Denken?

Die „Mitte“ verteidigen

Wen kümmert’s da, dass Marx nicht nur die bis heute fundierteste Analyse der kapitalistischen Produktionsweise vorgelegt hat – mit der ihr eigenen Dynamik unversöhnlicher Widersprüche, die gerade heute wieder akut zu werden drohen? Wen kümmert’s da, dass seine Darlegung, wie ökonomische und gesellschaftliche Prozesse funktionieren, bis heute in Gesellschaftsanalysen weiterwirken? Wen kümmert’s da, dass Marx die Globalisierung, die uns heute beherrscht, bereits konzipiert hatte? Kurzum – was kümmert es die Jagd­gesellschaft, dass Marx ein Klassiker ist?

In Österreich aber regiert gerade eine Verteufelung, die den Namen Marx trägt. In selbstzufriedener Ignoranz wird hier ins Jagdhorn geblasen. Marx gilt als neues Schimpfwort.

Aber vielleicht verkehrt sich ja auch hier der Effekt und führt zur Wiederbelebung eines Denkens, einer Theorie, die zum Beispiel erklärt, was Klassenkampf auch ist: etwa die „Mitte“ zu verteidigen.

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