Turnen in der Kritik: Respekt verzweifelt gesucht

Vor drei Jahren warf Turn-Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz ihrer Trainerin Übergriffe vor. Der Verband wollte vieles besser machen. Was hat sich getan?

Pauline Schäfer-Betz und drei andere Turnerinnen beim warm-up

Pauline Schäfer-Betz (li.) bei der WM 2019 in Stuttgart Foto: Imago/Sportfoto Baumann

Gut drei Jahre ist nun es her, dass Pauline Schäfer-Betz, 2017 Weltmeisterin am Schwebebalken, gemeinsam mit anderen Turnerinnen öffentlich machte, was sie im Bundesstützpunkt Chemnitz unter der damaligen Cheftrainerin Gabriele Frehse jahrelang über sich hatten ergehen lassen: Erniedrigungen, Training mit Verletzungen, eigenmächtige Medikamentenvergaben.

Der Deutsche Turner-Bund (DTB) reagierte damals rasch und entschieden: Die Cheftrainerin wurde suspendiert, eine Untersuchung in Auftrag gegeben und ein – allerdings schon wieder ausgelaufenes – Projekt mit dem Ziel eines „gesamtverbandlichen Kultur- und Strukturwandels“ aufgesetzt. Pauline Schäfer-Betz hatte ihren Schritt in die Öffentlichkeit von Beginn an mit dem Ziel verknüpft, dass sich für zukünftige Genera­tionen von Turnerinnen etwas verändert. Zeit für ein Fazit also.

Um Veränderungen anzustoßen, braucht es das Wissen, wo in der Vergangenheit was falsch gelaufen ist oder eventuell weiterhin falsch läuft. Umfassend und transparent aufgearbeitet hat der DTB allerdings lediglich die Vorgänge am Stützpunkt Chemnitz. Insgesamt 32 Personen wurden befragt, 22 davon Turnerinnen, rund 800 Protokollseiten erstellt, Aussagen mit Beweismitteln abgeglichen und auf Konsistenz geprüft sowie der Begriff psychischer Gewalt definiert.

Die Ergebnisse der unabhängigen Untersuchung der Vorwürfe wurde nach wenigen Monaten – in einer kurzen zusammenfassenden Stellungnahme – veröffentlicht: Der Verband sah „schwerwiegende Pflichtverletzungen“ und unter anderem die „Anwendung psychischer Gewalt in 17 Fällen“ als erwiesen an und forderte die Kündigung der Trainerin durch ihren Arbeitgeber, den Olympiastützpunkt Sachsen.

„Es sind keine Einzelfälle“

Als Konsequenz wurde das Projekt Leistung mit Respekt aufgesetzt, in dem explizit anerkennt wird, dass „die Vorfälle in Chemnitz keine Einzelfälle sind“. Tatsächlich hatte es nach den ersten Veröffentlichungen auch Schilderungen weiterer Turnerinnen gegeben, die sehr klar auf missbräuchliche Praktiken in anderen Stützpunkten hinwiesen. Im Rahmen des Projekts wurde eine 'Arbeitsgruppe Bundesstützpunkte’ damit betraut, die Situation andernorts zu begutachten.“

Staatsanwaltschaft Chemnitz zur Einstellung der Ermittlungen

„Seelischer Druck ist im Profisport bedauerlich, aber normal“

Auf Anfrage erklärte der DTB 2022, dass im Zuge der Erkenntnisse der AG Bundesstützpunkte „keinerlei Sanktionen“ gegen weitere Trainerinnen oder Trainer verhängt worden seien. Sportdirektor Gutekunst erklärte dazu Anfang 2023, man habe aus den Ergebnissen „interne Maßnahmen“ abgeleitet, die mit den Stützpunktleitern besprochen worden seien, und versicherte: „Wir legen bei allen Fällen den gleichen Maßstab an.“

Etwas anderes ist die juristische Aufarbeitung. Das arbeitsrechtliche Verfahren gegen Gabriele Frehse endete erst im Sommer 2023 in einem Vergleich, nicht zuletzt, weil ihr Arbeitgeber, der Olympiastützpunkt Sachsen, wenig Interesse an der Auflösung des Vertrages zeigte. Die Chemnitzer Cheftrainerstelle konnte demzufolge erst vor Kurzem wieder ausgeschrieben werden, Frehse selbst wurde im Sommer vom österreichischen Turnverband als Nationaltrainerin angestellt. Das Ermittlungsverfahren im Zuge der von Pauline und Helene Schäfer-Betz sowie Leonie Papke Ende 2020 erstatteten Anzeige wegen Verdachts der Misshandlung Schutzbefohlener und fahrlässiger Körperverletzung wurde 2023 von der Staatsanwalt Chemnitz zum zweiten Mal eingestellt. In der Einstellungsbegründung heißt es über die Schilderungen psychischer Gewalt unter anderem, dieser „seelische Druck ist im Profisport bedauerlich, aber normal“. DTB-Präsident Alfons Hölzl, selbst Rechtsanwalt, erklärte im vergangenen Juli, dass die juristischen Hürden, psychischen Missbrauch vor deutschen Gerichten ahnden zu können, aus seiner Sicht aktuell „extrem hoch“ seien. Damit dies gelänge, „müsste ein Umdenken erfolgen“, hier müsse eventuell der Gesetz­geber nachschärfen und zum Beispiel den Missbrauchsbegriff „konkreter in einen Straftatbestand aufnehmen“.

Der DTB hatte frühzeitig konkrete sportpolitische Forderungen aufgestellt. So die Ausweitung des Stützpunktkonzepts – damit junge Mädchen nicht in Hunderte Kilometer entfernte Internate ziehen müssen, um an ihren Olympiaträumen zu arbeiten – oder die Wiedereinführung des Sonder-Kaders – damit Turnerinnen, die verletzt oder in der vulnerablen Pubertätsphase sind und deshalb eine Kadernorm verpassen, nicht gleich aus dem Kader fliegen und ihren Stützpunkten oder Vereinen damit oft wichtige Gelder verloren gehen.

Lösungen sind zu teuer

Beide Anliegen harren der Einlösung. DTB-Generalsekretär Kalle Zinnkann erklärt dazu: „Das Thema finanzielle Ressource bindet uns da sehr“, und verweist auf den DOSB und seine Leistungssportreform, die tendenziell eine Reduzierung der Stützpunkte, eventuell gar eine komplette Zentralisierung favorisiere. „Wir haben als DTB da ganz klar kommuniziert, dass wir dem aufgrund der Altersstruktur unserer Athletinnen und Athleten nicht folgen können und dass wir eine andere Lösung brauchen.“ Im Verband bemühte sich 2023 eine Referentin auf einer Dreiviertelstelle um die Verstetigung des „Leistung mit Respekt“-Projekts: Sie soll identifizierbare Ansprechperson für Athletinnen sein, Koordinatorin weiterführender Projekte, Mitarbeiterin an „Verhaltensregeln“, Scharnier zu den Landesturnverbänden und vieles anderes mehr. Kalle Zinnkann sagt: „Mit einer Stelle ist es nicht getan. Wir bräuchten deutlich mehr Ressourcen.“

Eine dritte Forderung ist die Anhebung des Startalters für internationale Seniorenwettbewerbe von 16 auf 18 Jahre und die entsprechende Angleichung für Juniorenwettkämpfe. Dass ein solcher Schritt die Gefahr missbräuchlicher Praktiken, denen nicht zuletzt durch das asymmetrische Verhältnis zwischen übermächtigen Trainerfiguren und ehrgeizigen Kindern Vorschub geleistet wird, senken würde, ist sowohl das Ergebnis aktueller Untersuchungen, wie des britischen Whyte Report, als auch wissenschaftlich bereits seit Jahren beschrieben worden.

Nun ist einerseits dem DTB sonnenklar, dass diese Forderung inter­na­tio­nal keine Chance hat, da turnerische Großmächte wie USA, Russland, China dagegen sind. Andererseits spräche nichts dagegen, diese Forderung national umzusetzen, entsprechende Programme anzupassen und nur 18-Jährige ins inter­­natio­nale Rennen zu schicken.

Der DTB hat in den vergangenen drei Jahren zweifelsohne viele wichtige Aspekte im Rahmen der internationalen Debatte um missbräuchliche Trainingspraktiken adressiert, er hat mit Gerben Wiersma einen Bundestrainer eingestellt, der sich bislang öffentlich recht glaubwürdig komplett der Haltung des angestrebten Kulturwandels verschreibt, er hat eine Dreiviertelstelle im Verband eingerichtet, um das Thema weiter zu beackern – kurzum: Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass einige Menschen im Verband das Thema ernst nehmen.

Für das Projekt hatte man eine Maxime ausgegeben, der zufolge man „international konkurrenzfähig“ und „erfolgreich“ sein möchte, und zwar „unter Berücksichtigung, dass vom Beginn bis zum Ende der aktiven Karriere, das Kindeswohl, die Persönlichkeitsrechte und eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung jederzeit gewährleistet sind“. Ob ihm das langfristig gelingen wird, bleibt auch nach drei Jahren eine offene Frage.

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