„Oh Boy“ und kritische Männlichkeit: Der große Fehlschluss

„Aber das ist doch Literatur!“ Dieser Hinweis reicht nicht aus, um Texte gegen Canceln zu verteidigen. Grundsätzliche Anmerkungen zum „Oh Boy“-Desaster.

Buch unter einer Nachttischlampe.

„Literarisch“ sagt nichts über den Status des Realitäts­bezugs aus Foto: Annette Fischer/plainpicture

Man könnte wütend auf Arthur Rimbaud werden. Dabei kann er an sich nichts dafür, was seine Aussage „Ich ist ein anderer“ mit ausgelöst hat. Seit Langem klingt das Bonmot des französischen Dichters unausgesprochen an, wenn in einem Text ein Ich mit starken Bezügen zur Realität der schreibenden Person spricht und dennoch unklar ist, ob eine fiktive Figur erzählt oder die schreibende Person selbst.

Man könnte dabei von Autofiktion sprechen. Oft dient diese Finte aber als Ausweg, wenn sich Schreibende in die Ecke gedrängt fühlen.

Dass Ich irgendwie ein anderer sei als der Autor selbst und man vom Text nicht auf die Realität schließen dürfe, wird derzeit häufiger angedeutet, um den Autor Valentin Moritz in Schutz zu nehmen. Ihm wird vorgeworfen, einen von ihm selbst begangenen sexualisierten Übergriff in einem Text thematisiert zu haben – gegen den expliziten Wunsch des Opfers, das nicht zu tun. Publiziert wurde er in der Anthologie „Oh Boy“, in der sich Au­to­r*in­nen aus männlicher Perspektive mit „Männlichkeit*en heute“ auseinandersetzen. Inzwischen hat der Kanon Verlag die Auslieferung des Bands – den Moritz auch mit herausgibt – gestoppt.

Die Anthologie präsentiert sich als eine Sammlung von Texten, in denen Au­to­r*in­nen „über ihr Erleben von Männlichkeit“ berichten – mit „größtmöglicher Freiheit“ und „in bester literarischer Tradition“. Was im Vorwort schon recht vage klingt, wird in der Übersicht der Texte meist nicht deutlicher: Handelt es sich um fiktionale Texte? Sind die erzählenden Stimmen identisch mit den Autor*innen? Darf man das Erzählte als faktisch betrachten?

Gegen den Wunsch des Opfers

In den meisten der kurzen Zusammenfassungen wird peinlich genau darauf geachtet, keine konkrete Verbindung zur schreibenden Person herzustellen, auch wenn sie immer mitschwingt. Nur bei zwei Texten ist die erzählende mit der schreibenden Person offensichtlich identisch, bei Hermes Phettberg und Valentin Moritz. Zu seinem Text „Ein glücklicher Mensch“ heißt es: „Valentin Moritz schreibt gegen das tief verinnerlichte Schweigen unter Männern an und gesteht sich die eigene Übergriffigkeit ein.“

Als aber der Vorwurf, der Autor habe gegen den Willen einer konkreten Person einen realen Fall geschildert, durch eine Absage des Literaturhauses Rostock an Aufmerksamkeit gewonnen hatte, warf Mit­her­aus­ge­be­r*in Donat Blum in einer (inzwischen gelöschten) Reaktion auf Ins­ta­gram ein, Moritz’ Beitrag sei ein „literarischer (!) Text“. Dabei ging es offenbar darum, den Kollegen vom Vorwurf, gegen den Wunsch des Opfers gehandelt zu haben, freizusprechen.

Der Autor selbst verwies ebenfalls auf die Literarizität des Textes. Auch der Verlag betonte immer wieder die Literarizität des Textes – etwa in dem Eingeständnis, man hätte den Übergriff „auch nicht in einer fiktionalen“ Form behandeln sollen. Auch in der Berichterstattung ist immer wieder von Fiktion und dem Attribut literarisch die Rede.

Die beiden Begriffe werden wie ein Schutzschild gegen eine konkrete Bezugnahme zur Realität um Text und Autor aufgebaut. „Ich“ ist wohl – mal wieder – ein anderer.

Was heißt Literarizität?

Zunächst ist festzuhalten, dass der Veröffentlichungskontext keinen Anlass gibt, an der Faktualität des Beitrags zu zweifeln. Weder behaupten die Herausgebenden, dass es sich um eine Sammlung fiktionaler Texte handelt, noch deutet der Begleittext zu Moritz’ Beitrag das an.

Wer „Ein glücklicher Mensch“ liest, soll davon ausgehen, dass der Autor selbst spricht. Der Text zieht seine Kraft zu großen Teilen daraus, dass man es mit einer kritischen Selbstbetrachtung des Autors zu tun hat. Das heißt aber nicht, dass er nicht literarisch sein kann.

Es handelt sich um einen Fehlschluss. Mit der Zuschreibung der Eigenschaft literarisch scheinen die Herausgebenden andeuten zu wollen, dass man das im Text Berichtete nicht als etwas behandeln dürfe, das einen Bezug zu einem konkreten Geschehen in der Realität habe. Es sei eben Literatur und kein Tatsachenbericht. Das Problem dieser Verteidigung besteht darin, dass Literarizität etwas ganz anderes bedeutet.

Literarizität heißt zunächst einmal, als dass hier Sprache nicht nur zur Informationswiedergabe dient, sondern einen ästhetischen Wert an und für sich hat. Daraus folgt, dass literarische Texte faktual und fiktional sein können.

Die Zuschreibung literarisch sagt nichts über den Status des Realitätsbezugs aus. Es gibt literarische Reportagen, die an die beobachtete Realität gebunden sind, wie es auch literarische Texte gibt, deren Welt und Figuren frei erfunden sind, Fantasyromane zum Beispiel. Dazwischen entfaltet sich ein Spektrum von Texten, die realistisch, aber fiktional sein können, mit rea­len und erfundenen Elementen spielen oder die wahre Begebenheiten fiktionalisieren. Das Attribut literarisch gilt für sie alle.

Fiktionalität als soziale Praxis

Doch auch der Versuch, den Vorwurf durch das Textattribut fiktional abzuschwächen, geht ins Leere. Fiktionalität ist kein Status, den man einem Text im Nachhinein einfach überstülpen kann. Der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen hat es in einem Kommentar in den sozialen Medien treffend formuliert: „Fiktionalität ist keine Lampe, die man je nach Bedürfnis ein- oder aus­schalten kann.“

Fiktionalität ist das Ergebnis sozialer Praxis und von Konventionen. Als Gemeinschaft von Lesenden entwickeln wir ein Verständnis dafür, wann ein Text als fiktional zu lesen ist und wann nicht. Das bedeutet auch, dass er entsprechende Signale aussenden muss. Beispielsweise müssen der Text oder sein Veröffentlichungskontext darauf hindeuten, dass er fiktional ist. Das ist hier eindeutig nicht der Fall. Nirgendwo wird angedeutet, dass das Ich, das klare Bezüge zum Autor hat, nicht er selbst sein soll.

Doch selbst wenn der Kontext auf Fiktionalität hinweisen würde, wäre das hier nicht ausreichend. Es genügt nicht, einen Text mit außertextuellen Fiktionalitätssignalen zu umgeben, um jede konkrete Verbindung zur Realität abzuschalten. Fiktion, die sich auf konkrete Realität bezieht, muss damit rechnen, von dieser Realität eingeholt zu werden.

Das heißt zumeist, dass sich Menschen wiedererkennen und ihrer Darstellung widersprechen oder ihre Privatsphäre verletzt sehen. Die Literaturgeschichte ist voll von Skandalen, die entstanden sind, weil Au­to­r*in­nen nicht ausreichend fiktionalisiert haben. Von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ über Thomas Manns „Buddenbrooks“ bis hin zu Maxim Billers „Esra“.

Das Literarische als Herausforderung

Es ist also letztlich egal, ob „Ich“ ein anderer ist. Es handelt sich um etwas, das vor allem ausreichend kommuniziert werden muss. Die Verantwortung dafür liegt beim Autor – vor allem dann, wenn es um ein Thema wie selbstkritische Männlichkeit geht. Wenn die Ziele also Ehrlichkeit und kritische Reflexion sind. Dann ist das Literarische als Eigenschaft die größtmögliche Herausforderung. Literarizität bedeutet – so heißt es im Vorwort – Freiheit, aber damit geht – so könnte man meinen – auch die Verantwortung einher, die Literarizität nicht als Ausweg aus der Selbstkonfrontation zu sehen.

Es ist auffällig, wie stark die Literarizität vieler Texte in „Oh Boy“ markiert wird. Philipp Winkler schreibt in der dritten Person, aber so, dass das er jederzeit durch ein Ich ausgetauscht werden könnte; Thomas Köck inszeniert einen assoziativen Gedankenstrom, der aus dem Moment heraus zu entstehen scheint; Hermes Phettbergs Beitrag besteht aus kürzeren Szenen unterschiedlicher Form.

Dadurch sind viele Texte genau das, was die Herausgebenden behaupten: literarische Annäherungen mit größtmöglicher Freiheit. Diese Literarizität lässt jedoch Raum, sich nicht festlegen zu müssen, im entscheidenden Moment nicht ich zu sagen, und wenn doch, dann in einer ästhetisierten Form, die wieder Distanz zwischen der schreibenden Person und dem Text entstehen lässt.

Der Umgang mit der Freiheit, die das Literarische bietet, ist ein Grund dafür, dass die Anthologie nicht das ist, was sie sein könnte: eine männ­liche Selbstkonfrontation, die dorthin geht, wo es wehtut. Das ist vor allem schade.

Dass die Freiheit der Literarizität aber nun auch noch dafür herhalten musste, das problematische Handeln des Mitherausgebers zu rechtfertigen, ist ein echtes Ärgernis.

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