Neuer Roman von Iris Wolff: Im Wald der Erinnerungen

Iris Wolffs Roman „Lichtungen“ schaut in die rumänische Vergangenheit, um die Gegenwart Europas besser zu begreifen. Ein Buch in sanften Molltönen.

Blick aus dem Zugfenster auf den Bahnhof von Bukarest

Vom Aufbrechen und Zurückkommen erzählt Iris Wolff. Blick aus dem Zugfenster auf den Bahnhof von Bukarest Foto: Alexandra Kern

Der Roman beginnt mit dem vor­läufig-versöhnlichen Schluss einer Liebes­geschichte, die zeitweise nicht wie eine aussieht. Die Schriftstellerin Iris Wolff erzählt ihren neuen, gerade erschienenen Roman „Lichtungen“ nämlich „rückwärts“, jedenfalls schaut die 1977 in Hermannstadt geborene Autorin mit jedem Kapitel weiter zurück in die Vergangenheit von Kato und Lev: Die beiden sind – was erst später im Text geschildert wird – in einem kleinen rumänischen Dorf aufgewachsen, haben die Schulzeit gemeinsam verbracht.

Mit dem Ende des Warschauer Paktes trennen sich die Wege. Lev bleibt in heimischen Gefilden, arbeitet in einem Sägewerk. Kato zieht als Straßenmalerin durch ein Europa ohne Grenzen und schickt der Jugendliebe regelmäßig selbst gezeichnete Postkarten in die alte Heimat.

Nach Jahren erhält Lev mal kein kleines Kunstwerk, sondern eine Karte mit drei Worten: „Wann kommst du?“ Eine Frage als Aufforderung. Lev zögert, fährt dann aber doch los. Sechs Wochen sind sie dann zusammen unterwegs, besichtigen „Städte und Dörfer“ in der Schweiz und in Frankreich. Doch Levs „Gedanken an zu Hause“ mehren sich, ein „sorgend-sehnendes Gefühl, das ihn zurückrief“, wächst beständig.

Er wird ihr von seiner Sehnsucht erzählen, und glücklicherweise reagiert Kato verständnisvoll. „Wir reisen gemeinsam zurück?“, fragt Lev und kann es kaum glauben, dass Kato zustimmt. Auch wenn nicht klar ist, was dieses Zurückreisen konkret bedeuten wird, haben sie sich nach „gegensätzlichen Bewegungen wiedergefunden“.

Iris Wolff: „Lichtungen“. Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 256 Seiten, 24 Euro

Ein Romaneinstieg mit wohlkalkuliertem Risiko: So ambitioniert die Grundkonstruktion, so banal-pathetisch wirken manche Formulierungen auf den ersten Seiten, was durchaus abschrecken, aber auch als Spiel mit dem Genre des Liebesromans gelesen werden kann.

Bereit zum Aufbruch

„Man müsse immer bereit sein, aufzubrechen“, erklärt Kato, was nach Poesiealbum klingt, Lev aber keineswegs zu irritieren scheint. Zu gut kennt er die Angebetete, also fragt er auf sensibel-nachsichtige Weise: „Auch wenn man gerade erst angekommen ist?“ Und die große Vagabundin erwidert prompt: „Dann besonders.“

Was wie ein Dialog aus einem Groschenheft anmutet, wird bei der Lektüre der literarischen Retrospektive zumindest teilweise nachvollziehbar. Denn die Familiengeschichten von Kato und Lev halten tatsächlich nicht wenige Düsternisse bereit, in denen der Roman stets „Lichtungen“ aufzuzeigen versucht.

Dabei wird die Erinnerung selbst zu einem Motor, die dunkle Vergangenheit aufzuhellen: „In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhört und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand.“

Die Erzählbewegung verläuft allerdings alles andere als zufällig; die prägenden Erlebnisse in Levs Leben werden gezielt angesteuert. Ansonsten würde die antichronologische Struktur des Romans auch nicht funktionieren. Die Übergänge von einem zum nächsten Kapitel werden nicht selten als Cliffhanger gestaltet, der sich bereits in der Geschichte zuvor aufgelöst hat.

Die ungewöhnliche Dramaturgie erzeugt einen Lektüresog, selbst wenn einzelne Passagen redundant sind. Nicht nur einmal darf Kato sagen, dass sie „an einem Samstag geboren“ sei. Irgendwann erfahren wir dann auch, warum das für sie eine Auszeichnung ist. „Kinder, die samstags geboren sind, haben eine Glückshaut.“ Katos putzige Privatmythologie wird immerhin nicht weiter ausbuchstabiert.

Der Tonfall wird rauer

Erstaunlicherweise ändert sich der literarische Tonfall der Erinnerungsinseln. Je vergangener die Episoden, desto rauer und auch ironischer ist die Sprache. Schon Levs Erfahrungen mit sadistischen Schulkameraden werden in bedrückender Schnörkellosigkeit beschrieben. Lev möchte nicht länger zur Schule gehen, wünscht sich ein Leben im Wald. Mit Imre findet er einen Vorarbeiter und Freund, der schnell erkennt, dass Lev sein Leben nicht in der Abgeschiedenheit verbringen sollte.

Doch der Forstnovize ist beseelt: „Einen Wald betreten war wie in eine Kirche gehen. Das Gefühl für die Zeit verlor sich, Zugehörigkeiten verschoben sich. Der Wald war innen, alles andere war draußen.“

Ohne Waldmetaphorik kommt das dritte, zentrale und beste Kapitel des Romans aus. Nach einem Unfall kann Lev seine Beine nicht mehr bewegen. Er verbringt Wochen und Monate im Bett und rollenden Pritschen. Selbst die Hochzeit der Schwester feiert Lev im Liegen. Diese Szene ist skurril und bildstark, verzichtet weitgehend auf sprachliche Überhöhungen. Kato beginnt, immer mehr Zeit mit dem beinkranken Schulfreund zu verbringen. Sie lernen zusammen, Kato erweist sich als gute Nachhilfelehrerin. Irgendwann gibt sie Lev auch einen Kuss. Vielleicht hat sie den Jungen damit gerettet, denn er wird schon bald wieder aufstehen können.

Skurriler Schluss des Romans, der in der Rückschau ein besserer Anfang gewesen wäre, ist ein Ausflug Levs mit Großvater Ferry in die Kurstadt Buziaș, die im Banat liegt. An den Wänden der Badeanstalten hängen Plakate von Nicolae Ceaușescu, doch der Mann, der einst als Hoffnungsträger gefeiert wurde, wird noch nicht als Diktator wahrgenommen. Die Stimmung ist heiter, selbst wenn die Patienten sich beschweren, dass früher alles besser war.

Utopie eines Vielvölkerstaats

Iris Wolff skizziert mit der brüchigen Kurgesellschaft auch die Utopie eines Vielvölkerstaates, in dem zwar politische, religiöse und sprachliche Differenzen existieren, die vielen Zuschreibungen aber nicht als unabänderlich wahrgenommen werden. Lev erfährt, dass sein Opa als Österreicher aufgewachsen, zum ersten Mal Rumäne geworden ist, dann Ungar und schließlich wieder einen rumänischen Pass erhalten hat. Allerdings hat Ferry nach diesem Hickhack „entschieden, er bleibe Österreicher“.

Lev ist von der Identitätsfrage überfordert, zumal er „auch noch“ eine siebenbürgisch-sächsische Mutter hat. Wer oder was ist er also selbst? Rückblickend wirkt der spielerische Umgang mit den Herkünften wie das sprichwörtliche Reich der Freiheit. Vielleicht ist das ein Grund, warum der erwachsene Lev später immer wieder an den Ort seiner Jugend zurückkehren möchte.

„Lichtungen“ ist ein Roman in sanften Molltönen, der die Schrecken der rumänischen Vergangenheit keineswegs ausspart. In den späten 1980er Jahren leidet das Land unter dem Repressionsapparat der Securitate. Selbst abgelegene Landgaststätten werden von den Agenten des Spitzeldienstes aufgesucht. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen versuchen, das Land über die grüne Grenze zu verlassen.

Zu dieser Stimmung passen die melancholischen Texte aus sächsisch-siebenbürgischen Volksmärchen, traurig-schöne Liedzeilen von The Cure („Pictures of You“) und die Stimme der unvergesslichen Sängerin Maria Tănase, die in dem Buch durchweg präsent sind. Auch historische Ereignisse wie die Atomkatastrophe von Tschernobyl sind überzeugend eingebaut, etwa über die zynischen Verlautbarungen der rumänischen Regierung, die sich später, wenn grauenhafte Missbildungen im Land bekannt werden, als Propaganda entlarven. Ohnehin überzeugt Iris Wolffs Prosa immer dann, wenn es um vermeintliche Nebenschauplätze oder Nebenfiguren geht, die nicht als quasipoetische Projektionsfläche dienen.

Geschmack grüner Haselnüsse

Zu oft bemüht die Autorin nämlich artifizielle Vergleiche, die weder zu einem Erkenntnisgewinn noch zu einem ästhetischen Mehrwert führen. Da ist von einem „Lächeln wie zwei Handmuscheln“ die Rede, in Katos Mund meint Lev eine bittere Süße zu entdecken, „wie der Geschmack grüner Haselnüsse“, und wenn der allgemeine Verfall illustriert wird, lesen wir Sätze wie diese: „In einem Gemeindehaus lagen Scherben wie hereingewehte Blätter über den Boden zerstreut. Risse hatten sich über den Kirchfenstern gebildet, die Seile lagen, wie Schlangen, abgeschnitten im Glockenturm.“

Doch selbst wenn sich die Vergleiche häufen, selbst wenn der Gedankenstrom mal wieder an „Lichtungen“ inmitten der erinnerten Dunkelheit vorbeiplätschert, lohnt es sich, das Buch zu lesen, weil darin eben doch eine bemerkenswerte Vielstimmigkeit in der rumänischen und europäischen Vergangenheit lebendig wird, weil Iris Wolff Geschichten und Geschichte plausibel verschränkt.

Tatsächlich zeigt der Roman anschaulich, was es bedeutet, wenn nationale Identitäten wieder zur Handlungsmaxime von Politik werden, wie schnell neu-alte Grenzen gezogen werden und die Menschen dann unter staatlichem Kontrollwahn zu leiden haben.

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