Middle East Union Festival in Berlin: „In Berlin werden Ideen geboren“

Können Lösungen für den Nahen Osten in Berlin gefunden werden? Das Middle East Union Festival antwortet darauf auch künstlerisch, sagt Kurator Mati Shemoelof.

Eden Cami and the KAYAN Project treten beim Middle East Union Festival in Berlin auf Foto: The MIDDLE EAST UNION Festival

taz: Herr Shemoelof, Sie leben seit acht Jahren in Berlin und haben hier den Flüchtlingssommer 2015 miterlebt. Wie hat das die Stadt aus Ihrer Sicht verändert?

Mati Shemoelof: Ich erinnere mich an eine Party damals auf dem Tempelhofer Feld. Auf einmal kamen syrische Geflüchteten zu uns und fingen an, Dabke zu tanzen. Das war wirklich schön. Man hört ständig, dass die EU die Grenzen dichtmacht, und dann dieser eigentlich unmögliche Moment: offene Grenzen! Mir hat das viele Möglichkeiten eröffnet. Ich bin in Israel aufgewachsen, wir konnten keine Syrer treffen, Syrien ist Feindesland. In Berlin konnte ich meine Nachbarn kennenlernen, ihre Geschichten hören, an ihrem Leid teilhaben. Aber wir konnten auch darüber sprechen, was alles möglich ist.

49, ist ein arabisch-jüdischer Dichter, Autor und Journalist aus Israel. Seine Großeltern emigrierten in den 1920er Jahren aus Iran, Irak und Syrien ins damalige Palästina. Shemoelof lebt seit 2013 in Berlin.

Teilen Sie mit syrischen Geflüchteten eine gemeinsame Identität?

Natürlich, ich bin ein syrischer Jude. Und ein nahöstlicher Jude. Und ein Israeli. Wir haben viel gemeinsam. Syrische Juden waren in Syrien, lange bevor es Nationalstaaten gab. Und auch die Diaspora-Situation hier in Berlin ist Teil unserer gemeinsamen Identität. Wir sind alle Ausländer, auch wenn mir bewusst ist, dass ich als Jude in Deutschland mehr Privilegien genieße als ein Araber.

Heute beginnt Ihr „Middle East Union Festival“ mit Lesungen, Diskussionen, Konzerten. Worum geht es?

So etwas hat es noch nie gegeben: eine große Konferenz von Arabern und Juden, Palästinensern und Israelis, Dichtern, Schriftstellern, Aka­de­mi­ke­r*in­nen und queeren Menschen aus Nahost und Nordafrika, die zusammenkommen, um gemeinsam zu träumen. Es wird ein utopischer, ein historischer Moment sein. Später werden wir unseren Enkeln erzählen, dass wir dabei waren, als man anfing, über die Nahost-Union zu reden.

Das „Middle East Union Festival“ findet vom 12. bis 15. 8. statt. Kuratiert wird es von Mati Shemoelof, der israelischen Schriftstellerin Hila Amit und der palästinensischen Umweltaktivistin Alaa Obeid, veranstaltet von der Berliner Literarischen Aktion, vom Hauptstadtkulturfonds gesponsert. Die Webseite fragt: „Kann ein diasporisches Umfeld von Expats oder Exilschriftsteller*innen, die im heutigen Berlin zusammensitzen, Aktionen in ihren Herkunftsländern fördern? Wie könnte eine Union des Nahen Ostens aussehen, wie könnte sie über die Fantasie hinaus in die Realität gehen?“

Auf die Eröffnung im Babylon mit einem Konzert der iranisch-israelischen Musikgruppe Sistanagila folgen Veranstaltungen etwa zu Gender und Identität im Nahen Osten oder der Rolle der arabischen Diaspora. (taz)

Was genau soll diese Nahost-Union sein?

Die Idee ist unter anderem beeinflusst durch die Europäische Union: Länder, die durch Kriege getrennt waren, haben eine Einheit gebildet. In diesem Sinne sind wir der Idee nachgegangen, dass auch der Nahe Osten vereint werden kann. Wir imaginieren einen gemeinsamen geografischen, kulturellen und politischen Rahmen, in dem alle Menschen Freiheiten und Rechte genießen, mit dem Ziel des gemeinsamen Wohls der Region.

Auf Ihrer Website ist von einer „fantastischen Möglichkeit eines Auswegs“ aus der Situation im Nahen Osten die Rede.

Ich denke, zuerst muss es Frieden zwischen Israel und den Palästinensern geben, echten Frieden, nicht die Trump’sche Idee von Frieden mit anderen Staaten wie den Emiraten, Bahrain oder Marokko. Ich bin ein Träumer, ich glaube wirklich daran, dass wir zusammenleben können. Was alles möglich ist, werden wir auf unserer Konferenz diskutieren.

Warum machen Sie Ihre Konferenz in Berlin? Muss so ein Impuls nicht von vor Ort ausgehen, von Damaskus, Jerusalem oder Kairo?

Berlin ist ein Ort mit großer arabisch-jüdischer Diaspora, nicht nur was die Zahlen angeht, sondern auch die kulturelle Kreativität und die politisch-intellektuelle Schärfe. Es gibt hier viele Menschen, die nach Alternativen suchen zu ihren Herkunftsorten. Berlin hat keine feste Identität oder Essenz, es ändert sich ständig. Uns Ausländern aus dem Mittelmeerraum gibt die Stadt etwas, aber auch wir haben Handlungsmacht und gestalten die Stadt. Berlin ist ein Ort der Kreation und Imagination, an dem Ideen geboren werden durch Kultur, Film, Musik und Theater.

2019 hat der Soziologe Amro Ali einen Essay veröffentlicht, der in Berlins arabischer Intellektuellenszene viel beachtet wurde. Er beschreibt Berlin als arabische Exilhauptstadt, vergleichbar mit dem New York der 1930er Jahren für jüdische Intellektuelle, die aus Europa geflohen waren. Geht die Idee des „Middle East Union Festival“ darauf zurück?

Als ich Amro Alis Artikel gelesen habe, war ich wirklich erstaunt. Er hat auf jeden Fall Einfluss gehabt auf uns. Aber die Idee einer Nahost-Union ist älter und geht auf unsere Wurzeln als arabische Juden zurück. Bevor der Nahe Osten nach den Vorstellungen der Kolonialmächte zerstückelt wurde, gab es das Osmanische Reich, das zwar auch gewalttätig und repressiv war, in dem aber der Raum für Minderheiten und Multikulturalität größer war. Es erlaubte viel mehr Möglichkeiten und Freiheiten als die kolonialen und nationalen Ideen, die später kamen. Die Region war offener. Die Idee einer Nahost-Union mag modern klingen, aber sie ist gleichzeitig tief in uns verankert.

Amro Ali beschrieb Berlin als globales Labor für die heutige arabische Exil-Community. Juden oder Israelis erwähnte er allerdings nicht.

Ich habe ihn damals auf Twitter gefragt, was mit den Juden ist, und er hat sofort geantwortet, dass er bereits dabei ist, darüber nachzudenken und Teile neu zu schreiben. Ich freue mich, dass er nun ein Buch schreibt. Er wird übrigens auch beim Festival dabei sein. Wir wollen Raum schaffen für alle möglichen Identitäten, nicht-europäische, queere, Arbeiterklasse. Im Arabischen Frühling ging es ja nicht nur um Demokratie und Menschenrechte, es ging auch um Klassenkampf. Die Menschen, die hierher kamen, konnten sich in ihren Heimatländern grundlegende Dinge nicht mehr leisten.

Worauf freuen Sie sich am meisten in den nächsten vier Tagen?

Ich will sehen, wie die Leute reagieren, welche Fragen sie haben, welche Kritik, welche Ideen! Und natürlich freue ich mich auf die Live-Konzerte. Die Musiker spiegeln viele der Ideen wieder, die wir eingebracht haben, etwa Rasha Nahas, Palästinenserin aus Haifa, oder Eden Cami, die aus einer drusischen Ortschaft kommt und in verschiedenen Sprachen singt. In der Synagoge am Fraenkelufer haben wir die Pijjutim, jüdische liturgische Gedichte. Ein aschkenasischer Kantor wird arabisch-jüdische Lieder singen, begleitet von einem syrischen Oud-Spieler. Ich hoffe, ich kann das alles genießen und werde als Kurator nicht nur gestresst sein.

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