Kritik an Berichterstattung über Krisen: Was wirklich vergessen wird

„Keiner spricht über …“ wird sich oft empört bei Krisen, über die aber doch berichtet wird. Das macht gute Arbeit und wirklich Übersehenes unsichtbar.

stark verschleierte Mädchen an Schulbänken, im Hintergrund ein männclicher Aufpasser in der letzten Reihe

Sehr in den Hintergrund gerückt: die Situation der Mädchen und Frauen. Religiöse Schule in Kabul Foto: Ebrahim Noroozi/ap

Eine bekannte deutsche Redensart lautet: „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Damit ist gemeint, dass Abwesendes leicht vergessen wird. Und so verhält es sich mit „vergessenen Krisen“. Hand aufs Herz, wie oft haben Sie in den vergangenen Tagen und Wochen an die Hungersnot im Kongo, die Brotkrise in Ägypten, an die Flut in Pakistan, an den Krieg im Jemen, an die Situation der Menschen in Syrien, die tödliche Korruption im Libanon, an die Dürre in Sambia, die Proteste gegen die Regierung auf Haiti, Terroranschläge im Irak oder die Fluchtbewegungen in den zentralamerikanischen Ländern Guatemala oder Honduras gedacht?

Wenn Sie sich nun bei einer dieser Krisen gut informiert fühlen, arbeiten Sie entweder bei einer entsprechenden Hilfsorganisation, sind Ex­per­t*in für die jeweilige Region oder Sie suchen sich gezielt die entsprechenden Informationen heraus. In jeder noch so gut kuratierten Zeitung oder anderen entsprechenden Nachrichtenangeboten kommen diese Länder selten vor. Und die Liste der „vergessenen Konflikte“ ist leider sehr, sehr lang.

Oft wird auf Sozialen Medien die Formulierung „keiner spricht über …“ bemüht. Auch im Zusammenhang mit Krisen, die dauerpräsent sind. Im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine oder die aktuellen Proteste im Iran fiel schon der Satz: Niemand spricht darüber. Empört wurde gefragt: Warum sagt niemand etwas dazu?

Achtung: Aumerksamkeitsökonomie

Dabei ist die Ansicht, dass diese Krisen vergessen seien, zum Glück falsch. Im Kontext des Aufstands gegen das klerikalfaschistische Mullah-Regime im Iran und der Selbstverteidigung der Ukrai­ne­r*in­nen gegen Putins Angriffskrieg wird mit solchen Suggestivfragen die Arbeit von vielen Jour­na­lis­t*in­nen und Ak­ti­vis­t*in­nen unsichtbar gemacht, die eben dafür sorgen, dass ein breites Publikum hinschaut.

Natürlich müssen wir uns als Menschen mit der Aufmerksamkeitsökonomie auseinandersetzen. Für eine Mehrheit geht es vielleicht noch um die Spendenbereitschaft, die bei allen am Anfang aufgelisteten Krisen sehr niedrig ist. Bei politischen Ent­schei­de­r*in­nen geht es allerdings darum, welche Handels-, Sicherheits- und Außenpolitik sie verfolgen. Wenn ihnen über die Ökonomie der Aufmerksamkeit suggeriert wird, dass ein Konflikt wenig Interesse erzeugt, kümmern sie sich auch wenig bis gar nicht darum.

Dazu kommt noch, dass mit der lapidaren Behauptung, die Ukraine oder der Iran seien vergessen, die wahren „vergessenen Krisen“ weiter in Vergessenheit geraten. Wenn vermeintlich niemand über die Situation in der Ukraine redet (die auf allen großen News-Seiten regelmäßig weit oben steht), müsste die Situation der Frauen in Afghanistan supervergessen sein?

Das nächste Mal, bevor man also behauptet, dass niemand über ein bestimmtes Thema spricht, lohnt es sich, wenigstens die Suchleiste kurz zu bemühen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Mohamed Amjahid ist freier Journalist und Buchautor. Bei Twitter schreibt er unter dem Handle @mamjahid, bei Instagram @m_amjahid. Seine Bücher "Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu antirassistischem Denken" und "Let's Talk About Sex, Habibi" sind bei Piper erschienen.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.