Kolumne Lügenleser: Keine Macht für niemand

Gib jemandem eine Armbinde und er wird zum Scheusal. Am besten zeigt sich das, wenn man S-Bahn-Securitys in Berlin beobachtet.

Drei Sicherheitsbeamte stehen auf dem Bahnsteig am Alexanderplatz in Berlin

Ob in der S-, U- oder deutschen Bahn: Die dummen Sprüche bleiben gleich Foto: dpa

Es ist heiß. Sehr heiß. In dem S-Bahn-Abteil steht die Luft. Sobald der Zug hält, werden die Türen aufgerissen. Ich bin gerade erst in Berlin gelandet, hab aber schon wieder schlechte Laune. Ausschlaggebend dafür sind die beiden S-Bahn-Securitys, die sich trotz ihrer äußerlichen Ramponiertheit, den enormen Schweißflecken und dem eindeutig durch Alkohol lädierten Gesicht, aufführen wie mittelalterliche Gutsherren. Sie stolzieren auf und ab, ermahnen diesen und jenen, stemmen die groben Hände in die Hüften und rümpfen die Nasen.

Zwischendurch wird natürlich über die neusten Schlagzeilen diskutiert. Der Özil ist immer noch ein Thema. Getreu dem alten Fußballmotto „11 Deutsche müsst ihr sein“. Aber auch der Junkie-Ullrich kriegt sein Fett weg und die Flüchtlings-Merkel und überhaupt, sie wissen schon, die machen ja eh, was sie wollen, und für die deutschen Obdachlosen bleibt dann gar nichts mehr übrig. Eben die übliche braune Suppe, die entsteht, wenn man eine Kartoffel und einen Lauch in einen stark erhitzten Topf wirft.

Zwei Stationen später erspähen die beiden Hilfssheriffs prompt einen dieser Gestrandeten ohne Wohnung auf dem Bahnsteig. Der Mann raucht, sein Hab und Gut trägt er in einer Tasche mit sich herum. „Verschwinde hier und such dir nen Job, du Vogel“, plärrt die Sicherheitsmitarbeiterin. Ihr Kollege, höchstwahrscheinlich selber gerade erst vom Jobcenter hierher verfrachtet worden und definitiv nur noch einige Kippenschachteln und Schnapsflaschen vom nächsten Herzinfarkt entfernt, pflichtet ihr murmelnd bei. Das angebliche Mitleid mit den von der Gesellschaft vergessenen Obdachlosen ist längst kein Thema mehr.

Man möchte nur noch kotzen

Dafür aber die Kinder. Also alle. Konkret geht es der Wortführerin nun um den Fall der Kindesmisshandlung in Staufen, das Urteil ist den beiden selbst ernannten Experten viel zu milde. Und es geht direkt wieder los: Kuscheljustiz, Kinder sind doch das Wichtigste, was wir haben, direkt vierteilen.

Und als wolle ein nicht existierender Gott die beiden auf die Probe stellen, präsentiert sich uns auf dem nächsten Bahnhof folgendes Szenario: Ein kleiner Junge, höchstens zwölf Jahre alt, dunkler Teint, schwarze Haare, sitzt auf dem Boden. Um ihn herum fünf Kontrolleure und drei Polizisten. Die Beamten legen ihm Handschellen an, „weil der keinen Ausweis dabei hat“. Die Vermutung, dass ein blondes Kind, das ohne Fahrschein und Ausweis aufgegriffen wird, eine gänzlich andere Reaktion hervorrufen würde, ist naheliegend. Die beiden Mindestlohn-Bodyguards eilen sofort dazu, wer weiß, ob acht Erwachsene genug sind, um den Knirps zu bändigen. Ein theoretischer Obdachloser ist eben kein realer Obdachloser und ein Kind nicht gleich ein Kind. Man möchte nur noch kotzen.

Weltweit und besonders in Deutschland gilt: Gib jemandem eine Armbinde und er wird zum Scheusal. Und deshalb lautet die richtige Utopie nach wie vor: Keine Macht für niemand.

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Juri Sternburg, geboren in Berlin-Kreuzberg, ist Autor und Dramatiker. Seine Stücke wurden unter anderem am Maxim Gorki Theater und am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt. Seine Novelle "Das Nirvana Baby" ist im Korbinian Verlag erschienen. Neben der TAZ schreibt er für VICE und das JUICE Magazin.  

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