Kampf gegen Klimakrise: Grenzen des Fortschritts

Ohne Fortschritt scheitert der Kampf gegen die Klimakrise. Doch wir müssen technologische Entwicklungen einhegen – und uns vom Wachstumsdogma lösen.

eine schmelzende Erdkugel auf einer Treppe

Guter Fortschritt, schlechter Fortschritt Illustration: Katja Gendikova

Vor etwa 1,5 Millionen Jahren hat ein Homo erectus irgendwo im südlichen Afrika gelernt, Feuer zu kontrollieren. Ohne ihn würden wir heute weder Kohle noch Erdöl verbrennen, keine Gasheizung aufdrehen und kein Fleisch grillen. Gebratenes Fleisch ist gesünder als rohes totes Tier, das Feuer macht das Kochen sonst nicht verdaulicher Pflanzen möglich, es hält Tiere ab und spendet Wärme.

Menschen lebten länger, wurden schlauer und erfanden die Medizin. Sie haben Tiere zu Nutztieren domestiziert, Pflüge geschmiedet, Kohle­zechen angelegt, die Stahlproduktion entwickelt, Wälder mit Feuer gerodet, Autos erfunden, Nachtarbeit und den globalen Kapitalismus. Alles im Namen des Fortschritts.

Wenn der Homo erectus gewusst hätte, wohin uns sein Feuer führt, hätte er es sich vielleicht noch einmal anders überlegt.

Das hätte er nicht. Denn Fortschritt ist eine Droge. Eine Droge erhöht den Puls, erzeugt Euphorie, erweitert das Bewusstsein, verlangt nach immer mehr und immer stärkerer Wirkung. Am Anfang des 21. Jahrhunderts befinden wir uns in einem Stadium, in dem die Wirkung gerade nachlässt. Das Abklingen eines Rausches bringt oft Niedergeschlagenheit, Erschöpfung bis hin zu Angstzuständen, Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen mit sich. Manche Menschen, die gegen die Klimakrise kämpfen, bezeichnen sich selbst als ausgebrannt.

Fortschreitende Ausbeutung

Fortschritt ist vom Beginn der industriellen Revolution in den Kohlezechen Englands an über die Ablösung der Pferdekutsche durch das Automobil bis hin zur Globalisierung der Warenwelt – inklusive der Ware Tourist – zu Beginn des 21. Jahrhunderts untrennbar mit der Ausbeutung fossiler Rohstoffe und einem immer wachsenden Bedarf an Energie verbunden.

Selbst die Entwicklungen in den Sphären von Quantencomputern und künstlicher Intelligenz sind vor allem eines: ­Energiefresser. Fortschritt heißt fortschreitende Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Es ist eine Leistung der menschlichen Spezies, die diese von allen anderen Lebensformen auf der Welt abhebt. Pflanzen und Tiere sind nun einmal nicht in der Lage, ihre eigene Lebensgrundlage zu zerstören.

Fortschritt bedeutet nach dem Wörterbuch „Oxford Languages“ „eine positiv bewertete Weiterentwicklung, die Erreichung einer höheren Stufe der Entwicklung“.

Fortschritt ist eine Droge. Deren berauschender Sog scheint heute in den Forschungslaboren der KI-Entwicklung unterwegs zu sein

England wird oft als das Mutterland der Demokratie bezeichnet. Die Glorious Revolution fand ein Jahrhundert vor der Französischen Revolution statt, auf die englische Aufklärung geht die moderne Gewaltenteilung zurück. Die Ablösung des Feudalstaats und die Entwicklung hin zur Demokratie ist der entscheidende gesellschaftliche Fortschritt der Neuzeit. Reformation und Aufklärung sind Ausgangspunkt eines Fortschritts, der (großen Teilen) der Menschheit den Rechtsstaat, Menschenrechte und einigen sogar eine antiautoritäre Erziehung gebracht hat.

Technischer Fortschritt und die Industrialisierung sind Garanten für ausreichende Nahrungsmengen, Beschleuniger für die segensreiche moderne Medizin, Paten der wirtschaftlichen Dynamik und von Reichtum (zumindest für einen Teil der Menschheit), der vor 1,5 Millionen Jahren unvorstellbar war. Anfang des 21. Jahrhundert muss sich die Menschheit nun entscheiden, ob sie Fortschritt vom Feuer lösen kann.

Die Klimakrise macht den Abschied von fossilen Brennstoffen, um mit einem Ausdruck der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel zu sprechen, „alternativlos“. Eine positiv bewertete Weiterentwicklung und die Erreichung einer höheren Stufe – Fortschritt – müssten demnach diejenige Entwicklung sein, die die Grundlage des menschlichen Lebens auf der Erde schützt und zugleich Demokratie, moderne Medizin und ausreichend Nahrung und Reichtum (für möglichst viele Menschen) erhält.

Upgegradete Menschen

Man kann 2023 nicht über Fortschritt schreiben, ohne Yuval Noah Harari zu erwähnen. Der israelische Historiker und Universaldenker mischt der positiven Entwicklungserzählung einen anderen, gleichermaßen unbekömmlicheren Gedanken bei. Fortschritt, so kann man es kurz zusammenfassen, bedeute Effektivitätsgewinne, nicht zwangsläufig Glück. Das hat ja auch Karl Marx schon gesehen. Effektivität teilt die Menschheit in Arm und Reich. Das ergibt Sinn, denn wer das Feuer beherrscht, beherrscht zweifelsohne auch seine Mitmenschen.

Aber Hararis Vision des Fortschritts mündet im 21. Jahrhundert in eine Spaltung der Menschheit in eine Spezies des via Bioengineering oder als Cyborgs upgegradeten Menschen – und die abgehängten anderen. Harari hat sich im März 2023 der Forderung von mehr als 1.000 Expertinnen und Experten aus der Techbranche, Forschung und Wissenschaft angeschlossen, ein sechsmonatiges Moratorium für das ­Trainieren von KI-Systemen, die „mächtiger als GPT-4“ sind, zu beschließen.

Fortschritt ist eine Droge. Deren berauschender Sog scheint heute in den Forschungslaboren der KI-Entwicklung unterwegs zu sein. Der Erneuerungszyklus immer leistungsfähigerer Programme ist der Anpassungsgeschwindigkeit demokratischer Gesellschaften weit überlegen. Nachdem die Sprach-KI ChatGPT und konkurrierende Tools auf das Internetanhängsel Mensch losgelassen wurden, wächst unter uns die Angst. Die Ahnung, dass sich diese künstliche Intelligenz vom Menschen unabhängig machen und den Homo sapiens im Lauf der Evolution noch überholen könnte, führt manche Exemplare zu überraschenden Impulsen.

Auch Entwicklungspioniere wie Elon Musk und Steve Wozniak hatten den offenen Brief für das Moratorium unterschrieben. Der Fortschritt frisst seine Kinder. Und die Unesco antwortet mit einer Forderung an die Staaten der Weltgemeinschaft, die Empfehlungen zum ethischen Umgang mit KI endlich in nationales Recht zu übersetzen.

Funktioniert Begrenzung?

Der Vater der Atombomben, die im Zweiten Weltkrieg über Hiroshima („Little Boy“) und ­Nagasaki („Fat Man“) gezündet wurden, und Leiter des sogenannten Manhattan-Projekts war Robert Oppenheimer. Nachdem Oppenheimer die Wirkung der unter seiner Leitung entwickelten Waffe begriffen hatte, das Ausmaß an ­Auslöschung von Leben, soll er US-Präsident Harry Truman gesagt haben, er, Oppenheimer, habe Blut an seinen Händen. Letzteres galt für ihn wie für seine Kollegen im Bombenbauercamp. Doch während Oppenheimer zum Gegner der Atomwaffenforschung wurde, machten seine wissenschaftlichen Mitstreiter weiter. Der Moment, als die infernalischste Waffe, die die Menschheit erfunden hatte, in Form eines Atompilzes über Hiroshima sichtbar wurde, wäre ein Zeitpunkt gewesen, diesen Fortschritt zu stoppen. Aber hat die Kontrolle, die Begrenzung des Fortschritts je funktioniert? Anfang des 21. Jahrhundert muss sich die Menschheit auch entscheiden, ob sie dem eigenen Fortschritt Grenzen weisen kann.

Weder das Einhegen technologischer Entwicklung noch der Abschied von fossiler Energie stehen in Widerspruch zum Fortschritt. Ohne die fortwährende Weiterentwicklung von Technologien der klimaneutralen Energiegewinnung und der CO₂-Reduzierung in der Atmosphäre würde der Kampf gegen die Klimakrise scheitern. Auf künstlicher Intelligenz ruhen insbesondere auch die Hoffnungen der Medizin: Die Verarbeitung riesigen Datenmaterials ermöglicht noch nicht absehbare Verbesserungen der Diagnose, Behandlung und Forschung. Zur Diskussion steht nicht der Fortschritt an sich, sondern die Frage, ob ­Fortschritt nur im Geiste des traditionellen olympischen Mottos „Schneller, höher, weiter“ (oder seiner seit 2020 gültigen Fassung „Höher, schneller, weiter – gemeinsam“) interpretiert werden muss.

Visionär Lafontaine

1985 schrieb Oskar Lafontaine, der ehemalige SPD- und spätere Linke-Politiker, ein Buch mit dem Titel „Der andere Fortschritt“. Darin verhandelte er die These, dass Wirtschaft auch ohne Wachstum ein gutes Leben ermöglichen könne. „Technischer Fortschritt ist nur bedingt ein fortgesetzt positiver Prozeß“, hielt Lafontaine fest. Die Industriegesellschaft sei an ihre Grenzen gestoßen. Zwar habe in den Industriestaaten Wirtschaft, Wissenschaft und Technik zu gewaltigen Errungenschaften geführt, doch wögen diese nicht auf, was an Zerstörung angerichtet und an existenzieller Gefährdung aufgebaut wurde: Massenarbeitslosigkeit und Armut, Hungertod, Atomtod, Naturzerstörung und soziale Not.

Damals konnte sich Lafontaines Sicht nicht durchsetzen. Er schien seiner Zeit voraus zu sein. Heute debattiert die Transformationsforscherin Maja Göpel dagegen an, Fortschritt in der ökonomischen Analyse mit Wachstum gleichzusetzen. Der Mythos vom ständigen Wirtschaftswachstum als Maxime des Fortschritts schaffe insbesondere eines: Ungleichheit und ein Leben über unsere Verhältnisse als Menschheit. Damit stellt sie jedoch auch die Konstante des Kapitalismus infrage, die nach Karl Marx Wachstum und Profitmaximierung zur Voraussetzung hat.

Für die Annahme, dass der Kapitalismus in den Grenzen der natürlichen Ressourcen überleben kann, ist noch kein Beweis erbracht. Die Grenzen des Wachstums hat der Club of Rome 1972 benannt. Die Grenzen des Fortschritts stehen 50 Jahre später im Mittelpunkt der Debatten.

Der Text ist erschienen im aktuellen Buch „Was kommt. Was geht. Was bleibt.“ Der Band zum 225. Jubiläum des Verlags Herder versammelt „Denkanstöße in der Zeitenwende“ von A wie Aktivismus bis Z wie Zeitenwende.

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taz-Chefredakteurin, Initiatorin der taz-Klima-Offensive und des taz Klimahubs. Ehemals US-Korrespondentin des Tagesspiegel in Washington.

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