Elon Musk und das X: Was „Longtermismus“ bedeutet

Kri­ti­ke­r*in­nen bezeichnen die Strömung als „Eugenik unter anderem Namen“. Doch nicht nur Musk ist fasziniert von der Idee des Longtermismus.

X in Leuchtschrift auf einem Haus

X-Logo in San Francisco Foto: Carlos Barria/reuters

„Ich mag den Buchstaben X“, postete Elon Musk am 23 Juli – dem Tag, an dem das holprigen Rebranding des Kurznachrichtendienstes Twitter zur „Everything App“ X begann.

SpaceX, der Tesla X, Elon Musks Sohn X und sein Unternehmen Neuralink, dessen Logo eine verspielte Version des X ist – Musk liebt das X. Auch, weil es eine zentrale Rolle in der Longtermismus Bewegung einnimmt, die aktuell die Begeisterung der Mächtigsten im Silicon Valley weckt. Elon Musk, Jeff Bezos, Facebook-Mitbegeründer Dustin Moskovitz – sie alle stehen öffentliche zu der Ideologie, deren Grundannahme es ist, zukünftige Menschenleben seien gleichwertig mit den heutigen.

Aus einer kruden utilitaristischen Logik leiten die Longterministen ab, dass es eine höhere moralische Pflicht sei, gegenwärtig alle nötigen Schritte einzuleiten, um zu ermöglichen, dass es in Zukunft mehr „glückliche“ Menschen gibt, als direkten positiven Einfluss auf die real-existierenden Menschen auszuüben. Die Ideologie dient denen, die durch den fossilen Kapitalismus reich geworden sind dazu, ihre Verantwortung für gegenwärtige Krisen abzuwenden.

Der Longtermismus ist eng mit dem Effektiven Altruismus verbunden, dessen Grundsatz es ist, die knappen Ressourcen Zeit und Geld möglichst effizient auf das Lösen von gesellschaftlichen Problemen anzuwenden. Ein gängiges Argument ist, dass es moralisch besser sei, in einer hohen Position in einem fossilen Unternehmen zu arbeiten, um anschließend größere Mengen an Organisationen spenden zu können, die sich „gegen den Klimawandel“ einsetzen.

Pseudophilosophische Studien

Der erst jüngst populär gewordene Fokus auf die entfernte Zukunft, die der Longterminismus verfolgt, hat dem Gutmenschentum der seit den frühen 2000er Jahren gewachsenen Gruppe an Effektiven Altruisten eine neue Ausrichtung verpasst. Die gängigen Themenfelder Kindersterblichkeit, Bildung, Entwicklungshilfe sind aus der Mode gefallen.

Um eine möglichst tolle Zukunft für die Menschen zu ermöglichen, bewerten die wissenschaftlichen Köpfe des Longterminismus am Center for Study of Existential Risk in Cambridge oder dem Future of Humanity Insititute in Oxford – die Musk finanziell unterstützt – die Gefahr, die Menschheit komplett auszulöschen. Es sind diese existentiellen Risiken für die Weiterentwicklung der menschlichen Spezies, die in der Typologie der pseudophilosophischen Studien mit X gekennzeichnet werden. Etwa ein nukleares Armageddon, der Einschlag eines über einen Kilometer breiten Kometen oder die Verbreitung manipulierter Viren.

Der wichtigste Philosoph des Longterminismus, Nick Bostrom, zählt in einer 2002 veröffentlichten Publikation auch die Gefahr einer „Dysgenen Belastung“ dazu. Die sei daran festzumachen, dass „an einigen Orten eine negative Korrelation zwischen intellektueller Leistung und Kinderreichtum“ zu beobachten sei. Intelligenz ist für Longterministen maßgeblich daran messbar, wie erfolgreich eine Person innerhalb des fossilen Kapitalismus ist. Je reicher, je ausbeuterischer, desto wertvoller für die Menschheitsgeschichte.

Reiche sollen viele Kinder haben

Als Vater von 10 Kindern sieht auch Musk in „einem Bevölkerungszusammenbruch aufgrund niedriger Geburtenraten, ein viel größeres Risiko für die Zivilisation als die globale Erwärmung“, wie er im Sommer letzten Jahres auf Twitter kundtat. Dort merkt er immer wieder an, dass er als reicher Mann mit vielen Kindern eine Ausnahme darstelle, und ruft andere Reiche dazu auf, es ihm gleichzutun.

Auch mit seinem Unternehmertum möchte Musk das „Licht des Bewusstseins“ auf lange Zeit absichern. Anders als oft angenommen, verfolgt Tesla nicht das Ziel, die akut bedrohliche Klimakrise durch die Elektrifizierung des Verkehrs zu bekämpfen. Lediglich wohlhabenden Menschen zugänglich und den Individualverkehr fortführend, wird die knappe Ressource Lithium von Tesla dafür eingesetzt, durch die langfristig vorgesehene Realisierung von selbstfahrenden E-Autos privilegierte Pas­sa­gie­r*in­nen vor einem Verkehrstod zu schützen.

„X als kollektives Bewusstsein der Menschheit“, postet Musk Mitte August. Was für ein Bewusstsein hier geschaffen werden soll, ist offensichtlich: Nicht nur Musk selbst ist in letzter Zeit immer wieder mit Falschaussagen über den Klimawandel aufgefallen. Seit der Twitterübernahme, ist die Zahl der klimaleugnenden und verschwörungstheoretischen Tweets gestiegen. Auch die rassistischen, antisemitischen, homo- und transphoben Angriffe haben sich seitdem verdoppelt, wie eine Studie im April dieses Jahres belegte.

Gleichzeitig haben 47,5% der 380.000 Twitternutzer*innen, die über die Klima- und Biodiversitätskrise geschrieben haben, ihre Aktivitäten sechs Monate nach Musks Übernahme eingestellt, wie eine weitere Studie belegt. Laut Musk soll zukünftig auch die Funktion, andere Nut­ze­r*in­nen zu blocken, die für viele ein wichtiger Schutzwall vor hasserfüllten Shitstorms war, abgeschafft werden. Eine der bislang wichtigsten Plattformen für gesellschaftlichen, journalistischen und akademischen Austausch wächst somit stetig zu einer Desinformation-Waffe von Rassist*innen, An­ti­se­mi­t*in­nen und Fa­schis­t*in­nen an.

Auch wenn sie nicht alle Longterministen sind, teilen sie mindestens drei gemeinsame Grundüberzeugungen: Dass nicht alle Menschen gleichwertig seien, die „wahre“ Bedrohung von anderen Gefahren ausgehe als die breite Öffentlichkeit denke, und dass der Tod weniger „wertvoller“ oder gar antagonistischer Menschen für die Umsetzung der eigenen Utopie grundsätzlich notwendig sei. Als „Eugenik unter einem anderen Namen“ beschreiben die wichtigsten Kri­ti­ke­r*in­nen der Longterministen, Timnit Gebru und Èmile P. Torres, die Bewegung.

Ablenkung von realen Krisen

X erfüllt neben der Verbreitung und Popularisierung von Klimawandelleugnung, Rassismus und Antisemitismus eine wichtige kulturpolitische Aufgabe, die Fixierung auf die Zukunft festzuschreiben. Dass es Musk nicht darum gehe, mit Twitter Geld zu machen, tat er bereits bei seinem Kauf im Oktober 2022 kund. Stattdessen habe er es „für die Zukunft der Zivilisation“ getan.

Mit der Everything App möchte Musk nicht nur den chinesischen Wettbewerber WeChat aushebeln, sondern unter seiner autoritären Führung nun einen „globalen Marktplatz“ „unbegrenzter Interaktivität“ schaffen, der jenseits von demokratischen Institutionen, staatlicher Kontrolle über Finanzströme, und dem Einfluss von Wissenschaft existiert. Das ist Zukunftsmusik, die angesichts der fallendn Werbeeinnahmen und Nut­ze­r*in­nen von X unrealistisch wirkt.

Und doch schafft Musk es mit X, Menschen für unrelevante Zukunftsprojekte zu begeistern und ihre Aufmerksamkeit von den realen Krisen unserer Zeit abzulenken. Alle anderen lässt er orientierungslos und mit dem Verlust einer Plattform zum Austausch über wirklich relevante Probleme in einer krisenhaften Welt zurück.

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