Choreographie inklusiv: Augen zu beim Tanz!

Die mixed-abled Tanz-Compagnie „Chorosom“ sieht alle Perspektiven als gleichberechtigt an. Ihr Stück „BarriereArm“ wird in Itzehoe uraufgeführt.

Zwei Tänzer umarmen einander

Wie findet man zu einer Umarmung, wenn man nichts sieht? BarriereArm gibt Antworten Foto: Maria Gibert/tanz.nord

ITZEHOE taz | Ob kurz und flüchtig oder innig und intensiv, ob ein schnelles Drücken oder ein langes Festhalten: Die Umarmung zählt zu den häufigsten nonverbalen, menschlichen Verhaltensweisen. Eigentlich. Mal abgesehen von den Jahren der Pandemie. Da war eine Umarmung untersagt, war gefährlich.

Gerade „diese Abwesenheit“, so erinnert sich die Choreografin Katharina Jacobsen, „steckt noch immer in unseren Körpern und tief in unserem Bewusstsein drin. Und je länger wir zur Umarmung recherchiert haben, desto mehr hat sie sich als Thema aufgedrängt.“ Als Thema für die neue Tanzproduktion „BarriereArm“, die am heutigen Mittwoch Premiere feiert.

Darin nähert sich die 2021 gegründete Tanzcompany „Chorosom“ dem Sujet auf eine besondere Weise: Sie hat den Anspruch, ihre Performance für alle Menschen – mit und ohne Behinderungen – so zugänglich wie möglich zu machen.

In „BarriereArm“ erforschen also eine Tänzerin mit und eine ohne Sehbeeinträchtigung die Geste der Umarmung – ihre Abwesenheit, ihre Wirkung, ihre innerliche und äußerliche Berührung und auch die Barrieren, die damit verbunden sein können.

Weg vom primär Visuellen

Aber wie kann man eine Umarmung eigentlich kommunizieren, wenn man nicht sehen kann? Welche Sprache kann man für diesen Vorgang finden, wenn Mimik und Gestik nicht visuell erfahrbar sind? „Eine Umarmung“, so beschreibt es die Tänzerin Naomi Sanfo, „geht für mich ganz klar von der Körpermitte, von meinem Zentrum aus.“ Sie, eine Tänzerin mit Sehbeeinträchtigung, performt die Choreografie gemeinsam mit Soi Antifantis-Scherb.

Aber tatsächlich macht „Chorosom“, übrigens Hamburgs erste professionelle mixed-abled Tanzcompany, keine Unterscheidungen zwischen sehend und nicht sehend und kreiert ihren Tanz weg von einem primär visuellen zu einem sinnlichen, auf mehreren Wahrnehmungsebenen erfahrbarem Erlebnis.

„Dafür fordern wir die Zu­schaue­r*in­nen auch auf, mal die Augen zu schließen“, erläutert Sahra Bazyar-Planke. „Natürlich sprechen sie dann immer erst mal davon, dass ihnen etwas genommen wird. Aber wir wollen mit unserer Arbeit darauf abzielen, dass sie bemerken, dass ihnen durch diesen Vorgang etwas geschenkt wird. Dass sie viel intensiver alle anderen Sinne schärfen und die Fühler ausstrecken. Und dass sie feststellen, dass eine Beeinträchtigung nicht ein Defizit darstellt.“

Für ihre Arbeit geht „Chorosom“ von der Gleichberechtigung aller Perspektiven aus, der „aesthetics of access“. Dieser Begriff bezeichnet die Praxis, Barrierefreiheit in der Kunstproduktion von Anfang an und mit einem künstlerischen Anspruch zu integrieren und eben nicht nachträglich hinzuzufügen.

Naomi Sanfo, Tänzerin

„Eine Umarmung geht für mich klar von der Körpermitte, von meinem Zentrum aus“

Eine Prämisse dabei ist, dass behinderte Künst­le­r*in­nen mit ihrer Expertise von Anfang an am Prozess beteiligt sind. „Die Gleichberechtigung der Perspektiven bedeutet eben auch, dass es nicht nur die normative Perspektive gibt“: So fasst es Soi Anifantis-Scherb zusammen.

Folglich ist die Person, die in der Tanzszene oft als korrektives „Outside Eye“ hinzugezogen wird, bei dieser Produktion ein „Outside Ear“. Für „BarriereArm“ hat die erblindete diplomierte Sprachgestalterin und Schauspielerin Pernille Sonne diese Aufgabe inne.

Die Uraufführung findet am 25. Mai im Studio des „theater itzehoe“ statt, es folgen Gastspiele in Eidelstedt und Bad Oldesloe, denn „BarriereArm“ entsteht im Rahmen von tanz.nord. Die Initiative engagiert sich seit 2020 – gemeinsam mit vier Projektpartnern aus Hamburg und Schleswig-Holstein – dafür, eine Struktur für die Kooperation von Tanzschaffenden aus beiden Bundesländern zu schaffen.

Da wird mal in Mehrzweckhallen gespielt und Scheunen, in Kirchen, Ladenlokalen, Schulen und auch mal in einem leer stehenden Edeka. Neue Spielstätten, neue Netzwerke, neues Publikum. „Ja, das ist Arbeit“, gibt Kirsten Burow, Projektkoordinatorin von tanz.nord offen zu. „Aber es ist eben auch der Auftrag von tanz.nord, die Szene im strukturschwachen, nicht gerade vom zeitgenössischen Tanz verwöhnten Schleswig-Holstein zu stärken und überhaupt zu erweitern.“

Und genau das sei auch „das Reizvolle und die Herausforderung daran“. Um anschließend bestenfalls festzustellen, dass auch diese Art von, man kann es vielleicht „strukturelle Beeinträchtigung“ nennen, kein Defizit darstellt.

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