Chinesischer Dissident Harry Wu ist tot: „Wir lebten wie Tiere“

Er war ein anerkannter Experte für die Laogai genannten Arbeitslager in China. Harry Wu wusste, wovon er sprach. 19 Jahre saß er selbst in Haft.

Zwei Männer an einem Rednerpult, imHintergrund das Capitol

Wu im Jahr 2011 in Washington Foto: ap

PEKING dpa | Harry Wu arbeitete in zwölf chinesischen Lagern. Allein neun Jahre in einer Kohlegrube. Auch in einer Chemiefabrik, einer Ziegelei, einem Stahlwerk oder auf einem Bauernhof. „Am frühen Morgen, wenn die Sonne aufging, versammelten wir uns und wurden von der Polizei eskortiert, um zur Arbeit auf die Felder zu gehen“, beschreibt er in einem Interview sein Leben in den Lagern. „Als wir in der Kohlegrube waren, waren es jeweils zwölf Stunden lange Schichten am Tag, 365 Tage im Jahr.“ Am Mittwoch wurde bekannt, dass der Menschenrechtsaktivist im Alter von 79 Jahren gestorben ist.

Es gab nicht genug zu essen. „Wir lebten wie Tiere, die nach Nahrung suchten.“ Der Hunger sei groß gewesen. „Viele starben. Ich hatte nur Glück“, sagte Wu dem amerikanischen Public Radio International. Als „Überlebender des chinesischen Gulag“ hat Wu sein Leben damit verbracht, die Missstände und Ungerechtigkeit an den Pranger zu stellen. Die Laogai genannten Lager waren nach dem Vorbild der sowjetischen Gulags geschaffen worden und dienten der Kommunistischen Partei als Instrument der Unterdrückung und Machterhaltung.

Nach seinen Schätzungen dürften bis zu 50 Millionen Menschen in diese Lager gesteckt worden sein. Es reichte, als „konterrevolutionär“ gebrandmarkt zu werden, wie es dem damals noch Wu Hongda genannten Sohn eines Shanghaier Bankiers selbst passiert war. Während der „Rechtsabweichlerkampagne“ Ende der 50er Jahre kam er mit 23 Jahren ins Lager, weil er die Invasion der Sowjetunion in Ungarn 1956 kritisiert hatte. Erst im Alter von 42 Jahren kam Wu 1979 frei und ging 1985 in die USA, wo er amerikanischer Staatsbürger wurde.

1992 gründete er die Laogai Forschungsstiftung. Viermal reiste Wu nach China, gab sich als Geschäftsmann oder Polizist aus, suchte Zutritt zu Lagern, filmte mit versteckter Kamera und sammelte Beweise für Menschenrechtsverstöße. In einem Krankenhaus tat er einmal so, als wenn er Organe von Hingerichteten kaufen wollte. Die fünfte Reise ging aber schief. Im Juni 1995 wurde er schon bei der Einreise von Kasachstan festgenommen, da er auf der Schwarzen Liste stand.

Gesten der Entspannung

China machte ihm den Prozess wegen Spionage. Er wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt, aber 24 Stunden später auf Druck der USA ausgewiesen. Seine Festnahme hatte zu einer Belastung in den damals ohnehin wegen eines Streits über Taiwan auf einen Tiefpunkt gefallenen Beziehungen zwischen China und den USA geführt. Doch sorgte die Freilassung von Wu für Entspannung und ebnete auch den Weg für den Besuch der damaligen First Lady, Hillary Clinton, im September 1995 in China, um an der Weltfrauenkonferenz teilzunehmen.

Die Dokumentation der Arbeitslager, seine Recherchen und Aussagen im US-Kongress brachten ihm große Anerkennung ein. US-Abgeordnete nannten ihn „einen Helden für alle Menschen, die an die Menschenrechte in der Welt glauben“ oder „eine Stimme für diejenigen ohne Stimme, die nach Wahrheit und Gerechtigkeit schreien“.

Wu kämpfte gegen die Todesstrafe, gegen die Organentnahme bei Hingerichteten, setzte sich für Arbeiterrechte und religiöse Freiheit ein. Er war ein Unterstützer des Dalai Lamas, des im indischen Exil lebenden religiösen Oberhaupts der Tibeter. 2008 gründete Wu das Laogai Museum in Washington. 2007 empfing ihn Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in Berlin, was Proteste aus Peking auslöste.

„Harry Wu hat mit Laogai Forschungsstiftung eine sehr wertvolle Quelle zum Thema Arbeitslager in China geschaffen“, sagte Kristin Shi-Kupfer vom China Institut Merics in Berlin. „Durch seine eigenen Erfahrungen als politischer Gefangener hat er seinem Engagement für Menschenrechte große Authentizität und Wirkung verliehen.“

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