Aromantik im Alltag: Niemals auf Wolke sieben

Herzklopfen und dummes Grinsen: Viele kennen es, verliebt zu sein. Für Aromantische ist das Gefühl aber fremd, im Alltag haben sie mit Unwissen zu kämpfen.

2 getrocknete rote Rosen strecken die Köpfe zueinadner

Aromantische Menschen können mit Liebeskummer durchaus etwas anfangen Foto: Reilika Landen/plainpicture

Ob Titanic, Stolz und Vorurteil oder I will Always love you – romantische Liebe fasziniert viele Menschen. Vielleicht deshalb, weil die meisten Leute die aufregenden Symptome kennen: das plötzliche Herzklopfen, das einsetzt, sobald der Schwarm den Raum betritt. Das Stottern, wenn man der Person nahekommt. Oder das Lächeln auf den Lippen, wenn eine neue Nachricht auf dem Handy aufploppt.

Es gibt allerdings auch Menschen, die nie oder nur selten Verliebtheitsgefühle entwickeln und mit dem Verhalten frisch Verliebter nicht viel anfangen können – so wie Finn Pieber. Pieber ist 26 Jahre alt, studiert Kulturwissenschaften und Philosophie im Master, benutzt keine Pronomen und bezeichnet sich als aromantisch. „Küssen, vor allem Mund zu Mund, finde ich persönlich wirklich befremdlich“, gibt Pieber als Beispiel für frisch verliebtes Verhalten an. „Händchenhalten mag ich auch nicht so gern.“ Kuscheln oder Streicheln sei hingegen in Ordnung.

Den Begriff der Liebe findet Pieber schwer zu greifen. „Es gibt halt keine klare Definition, die sagt, das ist jetzt ein romantisches, und das ein freundschaftliches Gefühl“, erklärt Pieber. „Und die kann es auch nicht geben, weil jede Person anders empfindet.“ Für Pieber sei Liebe eine Sammlung aus starken positiven Gefühlen Personen oder Lebewesen gegenüber, die sich auf ganz verschiedene Art und Weise ausdrücken kann. „Menschen sind nicht dafür geschaffen, in Kategorien zu passen, und das ist auch gut so“, betont Pieber. „Aber wir müssen trotzdem darüber reden und im Kopf behalten, dass es Graubereiche gibt. Mehr reden hilft, damit mehr Narrative zum Auswählen sichtbar werden.“

Auch Cyril Leonard zählt sich zu den Menschen, die kein Verliebtsheitsgefühl entwickeln. Er ist 40 Jahre alt und arbeitet als Bibliothekar. „Ich habe etwas gespürt, das ich für Verliebtsein gehalten habe. Wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, denke ich aber, dass es eher etwas anderes war“, erklärt Leonard. Rückblickend sei dieses Gefühl eine platonische Anziehung gewesen, also der starke Wunsch nach einer Freundschaft.

Plötzlich ergab alles Sinn

Monoamoröse Beziehungen seien für Leonard stets befremdlich gewesen, und den hohen Stellenwert, den Liebesbeziehungen bei vielen Menschen hat, habe er nie nachempfinden können. „Das war bei mir nie so. Mit Anfang Mitte 20 habe ich mich dann gefragt, ob ich asexuell sei, und mich auch lange so identifiziert.“ Der Begriff Asexualität, der Menschen beschreibt, die keinen oder wenig sexuelle Anziehung verspüren, habe nie zu hundert Prozent gepasst – einen anderen Ausdruck habe Leonard aber nicht gekannt. „Als ich dann irgendwann den Begriff Aromantik entdeckt habe, hat alles auf einmal Sinn ergeben. Dann dachte ich, ja, das ist es, wonach ich gesucht habe.“

Und wie ist es gewesen, als in der Schule der Gossip mit Schwärmereien anfing? „Ich dachte, dass ich einfach ein bisschen spät in der Entwicklung sei“, erklärt Leonard und lacht. „Für jemanden schwärmen … Ich dachte immer, dass man das halt so sagt, aber dass es nichts ist, was irgendwie echt war.“ Um dazuzugehören, habe Leonard trotzdem angegeben, für diese und jene Person zu schwärmen – obwohl er die Person nie wirklich interessant fand.

Die Aussagen sollten lediglich dazu dienen, als Teenager nicht ausgeschlossen zu werden. Dass der Begriff Aromantik nicht weit verbreitet ist, führt zu vielen Problemen. Bei Betroffenen kann er Selbstzweifel auslösen oder zu Konflikten bei Beziehungen mit anderen Menschen führen. Part­ne­r:in­nen fühlen sich missverstanden, wenn sie Zärtlichkeiten austauschen wollen und dann nicht die Zuneigung erhalten, die sie selbst geben. Leonard sieht das Problem vor allem darin, dass Aromantik die Abwesenheit eines bestimmten Zustands definiert. Wie beschreibt man einen Zustand, den man nicht empfindet? Daher sei es für Leonard sehr befreiend gewesen, die Erkenntnis zu haben, dass es andere Menschen gibt, die genauso waren wie er. Bis dahin habe er geglaubt, mit ihm sei etwas falsch und er selbst müsse sich ändern.

Der Neurowissenschaftler Simon Eickhoff erklärt, dass bei verliebten Menschen ein „Überangebot an Hormonen“ vorhanden ist. Unter anderem werden im Gehirn von verliebten Menschen das Belohnungshormon Dopamin sowie Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet. Diese sorgen dafür, dass sich das Gehirn „in einem Ausnahmezustand“ befindet. Eickhoff erklärt, dass dieser Zustand auch einer Sucht nahekommt und ihn viele als berauschend empfinden.

Es gibt viele Erwartungen

Dass es Menschen gibt, die keine romantische Anziehung spüren, überrascht den Neurowissenschaftler nicht: „Wie empfänglich wir für Reize sind, nicht nur Liebe, sondern auch Trauer oder Furcht, ist eine Kombination aus Erfahrung und Genetik.“ Dafür seien Kindheit und die Jugend sehr prägend, doch der Mensch verändere sich auch stetig. „Die Prägbarkeit besteht weiter bis ins hohe Alter“, betont er. So sei es auch möglich, dass Menschen im späten Alter romantische Gefühle entwickeln – oder im Laufe des Lebens eine aromantische Neigung bekommen.

Es gibt zudem auch Menschen innerhalb des aromantischen Spektrums, die sich als loveless bezeichnen – also jene, die mit dem Konzept Liebe überhaupt nichts anfangen können. Dazu zählen sich allerdings weder Pieber noch Leonard – sie verlieben sich nur nicht. Dass keine Verliebtheitsgefühle aufkommen, bedeutet übrigens nicht, dass Aromantische keine Beziehungen führen – im Gegenteil. Leonard führt zwei queerplatonische Beziehungen, die er „runtergebrochen als Freundschaft plus“ bezeichnet. Mit queerplatonischen Beziehungen sind Verhältnisse gemeint, die über eine Freun­d:in­nen­schaft hinausgehen, aber nicht in die Norm einer sexuellen oder romantischen Beziehung eingeordnet werden.

Die Beziehung wird von den Menschen, die das Verhältnis miteinander haben, selbst definiert – dazu zählt auch die Absprache über Häufigkeit und Stärke von Intimität, Sex und Exklusivität. Beide Personen, mit denen Leonard in einer Beziehung ist, sind aromantisch, er habe aber auch in der Vergangenheit eine queerplatonische Beziehung zu einer Person gehabt, die nicht aromantisch war.

„Liebe ist alles, alles, was wir brauchen“ sang schon Rosenstolz 2004. Doch was ist Liebe überhaupt? Der Duden meint: Liebe ist eine Bezeichnung für stärkste Zuneigung und Wertschätzung. Doch lässt sich in Zeiten von Krisen und Kriegen überhaupt noch lieben? Wie politisch ist das Ganze? Und was haben Rassismus, Psycho­therapie und Digitalisierung damit zu tun? Diesen großen und kleinen Fragen wollen wir uns von nun an regelmäßig in der gedruckten taz und auf taz.de widmen.

Leonard erklärt, dass nach seiner Wahrnehmung das Dating und Romantik für viele Menschen sehr viel Raum einnähmen und automatisch höhergestellt würden als andere Beziehungen. Die Gefühle werden auch dann, wenn die Beziehung noch gar nicht existiert, mit sehr viel Erwartungen verknüpft. Das verstehe er nicht, sagt er: „Wieso stecken Menschen so viel Energie rein und strukturieren ihr Leben um diese Beziehung, wenn gleichzeitig andere Beziehungen wie Freun­d:in­nen­schaf­ten diesen Stellenwert nicht haben?“ Nach seiner Wahrnehmung seien Freun­d:in­nen­schaf­ten sehr viel langlebiger und stabiler, doch sowohl bei einzelnen Menschen als auch in der Gesamtgesellschaft sehe er nicht dieselbe Anerkennung, die romantische Verhältnisse erhalten.

Aromantische und Liebeskummer

Seine beiden eigenen Beziehungen laufen gut, sagt Leonard. Den Schritt des Verliebtseins hat er in beiden Beziehungen übersprungen. „Die Liebe, die ich für Freunde oder Geschwister empfinde, kommt ja auch ohne Verliebtsein aus. Und es ist auch das, was ich unter Liebe fasse. Liebe hat immer einen Aspekt der Selbstlosigkeit. Wenn man besitzergreifend ist und den Menschen für sich haben möchte, ist das nicht Liebe.“

Leonhard und Pieber plädieren für mehr Kommunikation – nicht nur in Beziehungen, sondern auch innerhalb der queeren Community. Das A unter LGBTQIA werde viel zu oft nur als Asexuell erfasst, bemängeln beide. Dabei kann das A auch für Agender stehen, also Menschen, die sich als geschlechtslos bezeichnen. Oder eben Aromantik. Daher wünscht sich Leonard auch in der queeren Community mehr Sensibilität. „Pride kann sehr amatonormativ sein“, kritisiert er. „Es ist stark auf romantische und gleichgeschlechtliche Liebe fokussiert. Beispiele sind Sprüche wie,Love is love'. Da denkst du, na ja, davon fühlen sich viele Aros nicht angesprochen.“

Im Übrigen bedeutet fehlende Romantik nicht, dass Aromantische keinen Liebeskummer haben. „Wenn eine Freundschaft auseinandergeht, vermisst man den Menschen ja auch“, gibt Leonard als Vergleich an. „Natürlich ist es dann schade. Wenn man Zeit investiert hat in eine Person, wenn man wollte, dass es schön wird, sowohl für einen selbst, als auch für die andere Person. Und auf einmal hat man Sachen, die man jetzt wieder alleine machen muss.“

Ansonsten gleicht der Alltag von Aromantischen denen der Verliebten: Sie essen, gehen ins Kino, fahren zur Arbeit, studieren oder gehen einer anderen Tätigkeit nach. Lediglich ihre Beziehungen, falls sie welche haben, basieren stärker auf Kommunikation und Absprache.

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