Ruinen von Erinnerungen

Die großen Betonklötze an der Gehrenseestraße in Lichtenberg stehen schon seit Jahrzehnten leer, bald soll hier neu gebaut werden.Die Künstlerin Sung Tieu will die Geschichte der Wohnheime für vietnamesische Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen der DDR wach halten

Die Hochhäuser verfallen zusehends Foto: Andreas Muhs/caro/picture alliance

Von Theresa Weise

An einem sonnigen und warmen Samstagmittag steht eine Traube Menschen an einer viel befahrenen Straße in Lichtenberg, die einst eine Grenze war: Ab den 80er Jahren trennte sie die Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen der DDR von der deutschen Mehrheitsgesellschaft.Heute sind von der ehemaligen Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen­sied­lung nur noch Ruinen übrig, bald sollen hier neue Wohnungen entstehen.

1994 zog die damals siebenjährige Sung Tieu mit ihrer Mutter und Tante in die Gehrenseestraße in Alt-Hohenschönhausen. Ihr Vater war als Vertragsarbeiter aus Vietnam, einem der sogenannten Bruderländer, in die DDR geholt worden. Mittlerweile ist Tieu eine international renommierte Künstlerin und bietet in ihrem ehemaligen Zuhause Führungen zu dessen Geschichte an.

Die gehört eher zu den dunkleren Kapiteln der geteilten Stadt. Sung Tieu durchleuchtet die Gewalt und den strukturellen Rassismus und verwebt dies mit ihren eigenen Erfahrungen. Die Künstlerin will damit auf ein Thema aufmerksam machen, das vom Vergessen bedroht ist. Denn die Baufirma Belle-Epoque will hier gemeinsam mit der landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Ho­woge ein „Nachhaltigkeitsquartier“ bauen. 1.000 Wohnungen sollen hier entstehen, dazu noch eine Grundschule, Kitas sowie Einzelhandel und Gastronomie. Auch ein Erinnerungsort ist geplant. Dennoch befürchtet Sung Tieu, dass mit dem Abriss der Gebäude auch die Geschichte ihrer Be­woh­ne­r*in­nen verschwinden könnte. Das will die Künstlerin verhindern.

Der Spaziergang beginnt an der mehrspurigen Straße, die die Be­woh­ne­r*in­nen der Plattenbauten sichtbar von den deutschen Bür­ge­r*in­nen trennte. Diese Form der architektonischen Segmentierung, so Tieu, sollte die Ar­bei­te­r*in­nen weit weg von den Deutschen und nah an den Fabriken positionieren. Damals wurde das Areal von Nach­ba­r*in­nen ringsherum als „Schandfleck“ bezeichnet, erinnert sich Tieu.

Durch einen Bauzaun, der sich leicht verrücken lässt, betritt man das sonst abgesperrte, 6,3 Hektar große Gelände zwischen Gehrensee-, Wartenberger und Wollenberger Straße. Seit 2003 liegt das Gelände brach. Der Beton an den Häusern bröckelt, der Asphalt ist an vielen Stellen aufgerissen und übersät mit zersprungenem Glas, zerdrückten Dosen und zerrissenen Plastiktüten. An manchen Stellen liegen Teile der Betonwände auf dem Boden. Die Natur hat sich den Ort zurückerobert: Er ist überwachsen von hohem Gras, Sträuchern und Bäumen. An den Fassaden sind zahlreiche Graffiti zu sehen.

Vor einem großen Loch im Boden kommt die Künstlerin zum Stehen und beginnt zu erzählen. 1980 unterzeichnete die DDR mit Vietnam und anderen Ländern bilaterale Verträge für „Anwerbeabkommen“, um den Fachkräftemangel zu bekämpfen. Zehntausende Menschen kamen nach Ostdeutschland, um zu studieren und zu arbeiten, die meisten von ihnen aus Vietnam. Integriert wurden sie jedoch nicht. Auch waren Privat- und das Berufsleben der Ar­bei­te­r*in­nen durchweg fremdbestimmt. Weder durften sie sich aussuchen, wo sie wohnen, noch wo sie arbeiten oder wie sie leben wollen.

Die Leben Zigtausender Menschen, die nach Deutschland kamen, wurden somit bürokratisiert und kontrolliert. Es gab strikte Wohnregeln, die die Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen zu befolgen hatten, etwa was Besuch betraf. An den Eingängen gab es Passkontrollen und es wurde Protokoll geführt, wer die Häuser betritt und verlässt, um zu überwachen, wer arbeitet und wer schläft.

Hier in der Gehrenseestraße lebte die größte vietnamesische Community. In neun Häuserblocks mit je sechs Stockwerken gab es 1.000 Wohnungen. Pro Person wurden fünf Quadratmeter einkalkuliert, sodass drei bis vier Leute in einer Einzimmerwohnung lebten, oft waren es sogar noch mehr. Unabhängig davon, ob sie verheiratet waren oder nicht, wurden Männer und Frauen in verschiedene Unterkünfte aufgeteilt, und es war ihnen untersagt, gemeinsam zu leben. „Manchmal versetzte man Ehepaare für die Arbeit sogar in verschiedene Städte“, erzählt Sung Tieu. Wurde eine Vertragsarbeiterin schwanger, konnte das nur zweierlei bedeuten: Ausreise oder Abtreibung. Aus Angst, wieder zurück in ihre Heimat geschickt zu werden, trieben die meisten Frauen ab, sagt Tieu.

Die Behandlung der vietnamesischen Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen habe oft an die von Kindern erinnert, was auch an der Sprachbarriere gelegen habe. Üblicherweise wurden nur einmonatige Sprachkurse angeboten, wodurch die Menschen sich selbst überlassen blieben und Barrieren zu den Einheimischen hoch gehalten wurden.

Nicht nur das Privatleben, auch das Arbeitsleben war Sache des Staates. Viele der Ar­bei­te­r*in­nen arbeiteten in Volkseigenen Betrieben wie Metzgereien, dem DDR-Stern-Radio-Berlin, Berliner Lederwaren oder dem Funkwesen Köpenick.Die meisten der Arbeitsverträge wurden nach der Wende aufgelöst, was den ausländischen Arbeitenden nicht nur die Existenzgrundlage, sondern auch den Wohnheimplatz entzog und somit das Bleiberecht. Von jetzt auf gleich fielen die Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen in einen ungeklärten und perspektivlosen Status.

Die Bundesregierung versuchte, sie durch Rückführungsabkommen zurückzuschicken. „Oft war es so, dass die Heimatländer ihre Bür­ge­r*in­nen nicht zurückhaben wollten“, erzählt Tieu. Es gab eine Art Abfindung und ein Flugticket, verbunden mit der Bitte, Deutschland sofort zu verlassen. In ihrer Not reisten viele Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen zurück, obwohl in vielen dieser Länder Krieg, Armut und Notstände herrschten. Andere, wie Tieus Familie, blieben jedoch.

Tieu führt die Gruppe in ihr altes Zuhause im zweiten Stock, Block C. Erst nach dem Mauerfall lebte die Künstlerin mit ihrer Mutter und Tante von 1994 bis 1997 in der Gehrenseestraße. Nach der Wende wurde das Haus sich selbst überlassen. Die Plattenbauten entwickelten ein eigenes Ökosystem: Die Be­woh­ne­r*in­nen eröffneten Restaurants in ihren Wohnungen, verkauften illegal Zigaretten oder errichteten Blumenläden. Selbstorganisiert kümmerten sie sich um Kinderbetreuung, ärztliche Versorgung und andere alltägliche Strukturen.

Die Regel, um in Deutschland bleiben zu dürfen, beschreibt Tieu so: „Wenn ihr euch selbst ernähren könnt, dürft ihr bleiben.“ Das Problem: Die Mieten in der Gehrenseestraße stiegen um ein Vielfaches, von 60 DDR-Mark auf 460 Deutsche Mark. Am Ende kosteten die Wohnungen dann sogar 1.000 Deutsche Mark.

Vorbei an Sperrmüll geht die Gruppe am Ende eines langen Ganges in die 14 Quadrat­meter große ehemalige Wohnung der Künstlerin. Als kleines Kind spielte Tieu mit einem Freund aus der Wohnung gegenüber durch eine Türschlitz hindurch. Aus Angst der Mutter, der Sohn könne ihr weggenommen werden, habe er tagsüber nicht das Zimmer verlassen dürfen, erzählt sie. Also kommunizierten die beiden meistens durch einen kleinen Spalt.

Sung Tieu vor ihrem ehemaligen Zuhause Foto: Adam Berry

Damals sei es „Mainstream“ gewesen, gegen Ausländer zu wettern, sagt Tieu. Die rassistischen Anfeindungen gipfelten schließlich in dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, als 1992 vietnamesische Ver­trags­ar­­bei­te­r*in­nen um ihr Leben fürchten mussten, weil die zentrale Aufnahmestelle für Asyl­be­wer­be­r*in­nen angegriffen wurde. Die Polizei stand untätig daneben. Im selben Jahr wurde der vietnamesische Vertragsar­beiter Nguyễn Văn Tú in Marzahn von einem Neonazi erstochen.

Die Erinnerungen und Geschichten, die Tieu in der Führung vermittelt, sind auch integraler Bestandteil ihrer künstlerischen Praxis, die von den Themen Migration, Exil und rechtliche Grauzonen durchdrungen ist. Ihre eigenen Erfahrungen verwebt die Künstlerin dabei mit fiktionalen Darstellungen.

Auch ihre Vergangenheit der Gehrenseestraße hat die Künstlerin verewigt. Ihre Videoarbeit „One Thousand Times“ ist derzeit im Haus der Kulturen der Welt in der Ausstellung „Echos der Bundesländer“ zu sehen. Die Kamera tastet behutsam und ruhig die Fassade des Hauses ab, in dem Tieu lebte. Das saftige Grün der Bäume steht im kühlen Kontrast zum Beton der Wände. Durch die Treppenhäuser strahlt der blaue Himmel hindurch.

Die Monotonie der Architektur wird durch den Efeu gebrochen, der sich an einigen Fassaden emporwindet und in die Wohnungen eindringt, die keine Fenster oder Türen mehr haben. Die Kamera schwenkt zu den pastellgelben bewohnten Plattenbauten auf der anderen Straßenseite, dem deutschen Pendant zu den Unterkünften der Vertragsarbeiter*innen. Das Video endet, ebenso wie die Führung, in Tieus ehemaliger Wohnung. Auch wenn diese eines Tages nicht mehr da sein wird, durch ihre Arbeit hat die Künstlerin die Erinnerungen an die Geschichte der Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen in der Gehrenseestraße vor dem Abriss bewahrt.