Lasst die Aufarbeitung beginnen!

Vor vier Jahren wurden die ersten Coronamaßnahmen schon wieder gelockert. Die Debatte über diese Maßnahmen muss endlich auch in Deutschland offen geführt werden

Berlin, 25. April 2020   Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Von Frédéric Valin

Es ist ziemlich genau vier Jahre her, dass Bund und Länder die ersten Lockerungen der Covid-Schutzmaßnahmen beschlossen. Aktuell wird häufiger gefordert, eine Aufarbeitung der Maßnahmen zu vollziehen: Fangen wir an!

Es gilt zunächst festzuhalten, dass die ursprünglich getroffenen Maßnahmen kein völliger Blindflug waren. Zwar war die Situation neu, dass es ein Virus gab, das sich über die Atemwege verbreitet und relativ gefährlich ist. Die Konzepte zur Verhinderung einer gesundheitlichen Katastrophe aber existierten bereits und speisten sich auch aus praktischen Erfahrungen, die unter anderem die WHO bei verschiedenen Ebola-Ausbrüchen in Westafrika gemacht hatte. Aus dieser praktischen Erfahrung heraus war klar, dass die Maßnahmen so umfassend wie möglich sein mussten, um die Ausbreitung so schnell wie möglich in den Griff zu bekommen; und dass erst hinterher klar werden würde, welche Maßnahmen erfolgreich waren und welche nicht.

Die damaligen Coronamaßnahmen hatten zwei ausgesprochene Ziele: Schutz der Risikogruppen und des Gesundheitssystems. Zumindest Zweiteres ist teilweise gelungen – anders als in Norditalien stapelten sich keine Särge vor den Krematorien, und die Intensivstationen gingen zwar an ihre Belastungsgrenze, aber zumindest auf dem Papier nicht darüber hinaus. Dass sie doch überlastet waren, lassen Berichte sogenannter stiller Triage vermuten. Stille Triage bedeutet, dass Notaufnahmen Heime in ihrem Einzugsgebiet auf dem kurzen Dienstweg ­baten, keine Covid-Patient*innen mehr einzugliedern, weil jene ohnehin nicht versorgt werden könnten. Welches Ausmaß diese belegte Praxis hatte, wird meines Wissens (noch) nicht untersucht.

Der Schutz der Risikogruppen war ohnehin nur ein vorgeschobenes Ziel. Es war zwar anfangs darüber nachgedacht worden, ob eine Strategie des Containment – oder sogar der Ausrottung des Virus – umsetzbar wäre. Die erforderliche Dauer und der Umfang der Maßnahmen hätten aber vermutlich die Wirtschaft und damit den Wohlstand der Gesellschaft derart geschädigt, dass diese Option schnell verworfen wurde. Damit war klar, dass der Schutz der Risikogruppen nur ein zeitweiliger bleiben würde, den nur eine technische Lösung verlängern könnte: die Impfung.

Das unausgesprochene Ziel blieb, das bestehende Gesellschaftssystem zu erhalten. Das bildeten auch die damaligen Maßnahmen recht gut ab: die Beschränkungen betrafen insbesondere den privaten Bereich, während andere präventive Maßnahmen (Schutzfilter, Maskenpflicht, Homeoffice etc.) darauf ausgelegt waren, die Arbeitswelt so wenig wie möglich anzutasten. Auch das dürfte die Bereitschaft, diese Maßnahmen hinzunehmen, deutlich gesenkt haben: sie haben die Menschen auf ihre wirtschaftliche Funktion reduziert.

Unter diesen Voraussetzungen war auch nicht zu erwarten, dass die Maßnahmen dauerhaft auf Verständnis treffen würden. Entsprechend wurde die Normalisierung des Virus damals schon vorbereitet; irgendwann werde man lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Der Schwenk zu diesem Paradigmenwechsel war endgültig erreicht, als die WHO den weltweiten Gesundheitsnotstand aufhob, was mit einem Ende der Pandemie gleichgesetzt wurde.

In Deutschland hat der sich während der Pandemie als Kommunikator sehr verdient gemachte Virologe Christian Drosten diesen Schwenk am eindrücklichsten dokumentiert. Im Oktober 2023 erklärte er in einem Interview mit der Zeit die Pandemie für beendet. Covid sei „für die meisten Menschen jetzt wie eine Erkältung“. Das Interview weist zwei bemerkenswerte Leerstellen auf: Erstens ist an keiner Stelle die Rede von Long und Post-Covid, also jenen anhaltenden Folgebeschwerden nach einer Infektion, die in Deutschland schätzungsweise eine halbe Million Menschen betreffen. Und zweitens: Selbst wenn es für die meisten Menschen nur noch ein Schnupfen wäre – was ist mit dem Rest?

Und auch: Wer ist dieser Rest? Getreu dem Motto „Wer Schwierigkeiten hat, dem werden Schwierigkeiten gemacht“ werden diese Opfer von ohnehin marginalisierten Gruppen gefordert werden: von Menschen mit Behinderung, Alten, Kranken und auch von armen Menschen, deren Risiko einer Ansteckung vielfach höher liegt. Angesichts dieser Verschiebungen wird beispielsweise in den USA darüber diskutiert, ob und inwiefern diese Laissez-faire-Politik eine eugenische ist – eine Diskussion, die in Deutschland nicht stattfindet.

Ein großes Versäumnis, bedenkt man, dass sich die Erkenntnis festsetzt, es habe zu viele und zu umfassende Maßnahmen gegeben. Diskutiert wird, was die Maßnahmen mit der einzelnen Person gemacht haben. Dabei kommt zu kurz, was eine solche Katastrophe für die gesamte Gesellschaft bedeutet. Diese Diskussion ist bitter nötig, denn die nächste Pandemie kommt bestimmt. Und vermutlich sogar ziemlich bald.