Antisemitismus-Meldestelle warnt: Der Hass bleibt

Antisemitische Vorfälle sind 2022 zurückgegangen. Die Gesamtzahl blieb laut der Meldestelle Rias aber hoch. Der Ukrainekrieg habe dazu beigetragen.

Einschusslöcher sind auf einer verglasten Tür zu sehen

Diese Einschusslöcher wurden am Rabbinerhaus der Alten Synagoge in Essen im November 2022 entdeckt Foto: Justin Brosch/dpa

BERLIN taz | Das Drohschreiben erreichte die Familie im April 2022. Die Hamburger hatten eine ukrainische Familie aufgenommen und eine ukrainische Fahne an ihr Haus gehängt. Als „Untermenschen“ wurden die Kriegsgeflüchteten in dem Schreiben beschimpft. Wenn Deutschland im Winter Nachteile durch die Ukrainepolitik erleide, könne man ja „die Öfen, die wir seit 75 Jahren haben, wieder anfeuern“, drohte das Pamphlet. „Genug ‚Brennmaterial‘ haben wir ja.“

Der Vorfall ist nur einer, den die unabhängige Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) in ihrem aktuellen Jahresbericht listet. Der Bericht wurde am Dienstag in Berlin vorgestellt. Insgesamt 2.480 antisemitische Vorfälle zählt Rias darin für das Jahr 2022, im Schnitt fast sieben pro Tag – ein Rückgang von elf Prozent zum Vorjahr, aber immer noch ein höheres Niveau als in den Jahren zuvor. 661 jüdische Personen seien von den Vorfällen betroffen gewesen. Und nicht wenige Delikte hatten einen Bezug zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine – immerhin elf Prozent.

Die Zahlen werden seit 2017 erhoben, von aktuell fünf Meldestellen in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Sachsen und Hessen und dem Bundesverband. Rias-Geschäftsführer Benjamin Steinitz warnte am Dienstag: Antisemitismus habe inzwischen für viele Jü­d*in­nen einen „alltagsprägenden Charakter“, sobald diese als solche zu erkennen seien. Und es sei noch immer von einer „großen Dunkelziffer“ an Delikten auszugehen.

Auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sprach von weiter sehr verbreiteten antisemitischen Einstellungen in der Gesellschaft. Personen mit diesen Weltbildern fänden „immer neue Gelegenheiten für ihren Judenhass“.

Brandanschläge und Schüsse in NRW

Die Recherchestellen zählen für 2022 insgesamt 56 antisemitische Angriffe, 72 Bedrohungen, 186 Sachbeschädigungen und 1.912 Vorfälle mit „verletzendem Verhalten“, etwa antisemitische Schmierereien oder Parolen auf Demonstrationen. In 75 Prozent der Fälle sei dabei unklar geblieben, aus welcher politischen Richtung die antisemitischen Angriffe kamen – was für Betroffene zu einer zusätzlichen Verunsicherung führe, so Rias. Erfasst wurden auch 843 antisemitische Vorfälle im Internet.

Dabei sei es auch zu neun Fällen von „extremer Gewalt“ gekommen, die lebensgefährliches Potenzial hätten – ein Höchststand seit Beginn der Erfassung vor sechs Jahren. Rias zählt dazu die Schüsse und Brandanschläge auf jüdische Einrichtungen in Nordhein-Westfalen Ende 2022. Danach wurde ein Deutschiraner festgenommen. Den Fall hat inzwischen die Bundesanwaltschaft übernommen, die ihn auf iranischen Staatsterrorismus prüft. Zudem hatte in Berlin eine Personengruppe zwei junge Männer mit Baseballschlägern und Messern angegriffen, weil diese angeblich „Free Israel“ gerufen hätten.

War das Vorjahr noch geprägt von antisemitischen Vorfällen auf Anti-Israel-Demonstrationen oder bei Coronaprotesten, gingen diese Zahlen in diesem Jahr zurück. Aber immer noch 27 Prozent der Vorfälle hatten einen Bezug zur Pandemie. Neu hinzu kamen Vorfälle mit Bezug zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Rias notierte hier etwa Anfeindungen von jüdischen Geflüchteten aus der Ukraine oder Vorfälle wie im Mai 2022 in Regensburg, wo an eine Tür, die in den ukrainischen Nationalfarben blau und gelb angestrichen war, ein Davidstern und Z-Symbol geschmiert wurden.

Steinitz warnte, dass sich der Antisemitismus hier vor allem in Verschwörungsmythen äußere, wonach geheime Mächte das Weltgeschehen lenkten. Dieser Bereich werde für antisemitische Ausfälle immer prägender und habe eine Anschlussfähigkeit „bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein“.

Zu den Gelegenheitsstrukturen, die Antisemitismus befördern würden, habe im vergangenen Jahr auch die Documenta in Kassel mit ihren teils antisemitischen Exponaten gezählt. Dies und der politische Umgang damit habe in der jüdischen Community „viel Vertrauen kaputt gemacht“, erklärte Steinitz. Auch Klein räumte das ein und verwies auch auf die jüngsten Konzerte von Roger Waters in Deutschland, bei denen es zu antisemitischen Ausfällen gekommen sei. Es könne nicht sein, dass „unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit gegen Juden gehetzt“ werde.

Auch das Bundeskriminalamt hatte im vergangenen Jahr einen Rückgang von antisemitischen Straftaten notiert: von 3.027 auf 2.641 Delikte. Das aber markiere immer noch ein hohes Niveau. So lagen die Taten 2018 noch bei 1.799 Delikten.

Rias-Geschäftsführer Steinitz forderte die Sicherheitsbehörden auf, alle Sicherheitsdefizite an jüdischen Einrichtungen „umgehend zu beheben“. Hier dürfe es „nicht bei warmen Worten bleiben“. Auch müsse antisemitischer Hass auf Social-Media-Plattformen stärker bekämpft werden und sich die Bundesregierung konsequent für die Aufnahme der iranischen Revolutionsgarden auf die EU-Terrorliste einsetzen.

Zuletzt mahnte Steinitz Unterstützung auch in eigener Sache an: Die Arbeit von Rias sei bis heute prekär, drei Meldestellen rechneten mit Kürzungen. Felix Klein kündigte an, hier für eine institutionelle Förderung sorgen zu wollen. Die Arbeit von Rias sei „unabdingbar“.

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