Abschiedsstück in Hannover: Einmal nur die Berge sehen

Florian Fiedler, Leiter des Jungen Schauspiels in Hannover, wird Intendant am Theater Oberhausen. Zum Abschied bringt er „Heidi“ auf die Bühne.

Traum von einer anderen Welt: Die Berge bleiben in Fiedlers „Heidi“ ein Sehnsuchtsort Foto: Katrin Ribbe

HANNOVER taz | Heidis Welt sind bekanntlich die Berge. Zumindest sehen möchte sie sie natürlich auch am Schauspielhaus in Hannover, wo Florian Fiedler, Leiter des dortigen Jungen Schauspielhauses, die beiden berühmten Kinderbücher der Schweizer Autorin Johanna Spyri jetzt als Familienstück auf die Bühne gebracht hat – und als Abschiedsgruß: In der Spielzeit 2017/18 wird Fiedler Intendant am Theater Oberhausen.

Die Berge, sie bleiben in Fiedlers „Heidi“ über weite Strecken denn nur ein Sehnsuchtsbild. Gemeinsam mit ihrer im Rollstuhl sitzende Freundin Klara fliegt Heidi zu Beginn im Traum immer höher, um sie zu sehen. Aber auf den weißen Bühnenwänden steigen keine Berge, sondern funkelnde Banken-Türme empor. „Du, Klara“, sagt Heidi, „hier sieht man ja auch wieder nur Häuser.“

Später, als das Berg-Mädchen in seinem ausklappbaren Bett unter kaltem Neonlicht liegt, flackert der Traum von einer anderen Welt wieder nur als Videoprojektion über die Wände. Da ragt er dann auf, der Berg, mit einer kleinen Almhütte ganz oben, dem winkenden Großvater – und dem etwas schusseligen Freund Peter.

Die Bühnenrealität aber wird zum Albtraum. Da ist Klaras Vater ein gefühlloser Workaholic, der immerzu umherreist, um seiner Tochter nicht in die Augen blicken zu müssen. Die blinde Großmutter verfolgt keifend und zeternd von einer Galerie die beiden verstörten Mädchen. Der Bergjunge Peter wird zum angepassten Butler, der in der blitzblanken Wohnung das Essen auftragen muss.

Bald weiß niemand mehr, welche der Welten echt ist – die Bergwelt in Heidis Träumen oder das Zerrbild einer kapitalistisch durchökonomisierten Gesellschaft? In der Buchvorlage kehrt Heidi irgendwann in ihre Heimat zurück. In Hannover gibt die Drehbühne kurzzeitig den Blick aufs beeindruckende Berg-Panorama frei, aber die Szenerie bleibt unwirklich. Am Ende fällt der rote Vorhang zwar vor einer Szenerie der Glückseligkeit, aber der können zumindest erwachsene Zuschauer nicht wirklich trauen.

Traumweltenentwerfer

Regisseur Fiedler entwirft immer wieder Traumwelten, erzählt filmisch, quer durch die unterschiedlichsten Gattungen

Solche Traumwelten hat Florian Fiedler am Schauspiel Hannover oft entworfen. Er erzählt filmisch, ohne Brüche, quer durch die unterschiedlichsten Gattungen. Bilder beginnen vor den Augen zu flimmern und sich immer wieder neu zusammenzusetzen.

Vor rund zwei Jahren brachte Fiedler einen funkelnden „Sommernachtstraum“ zur Premiere, den er in einen heruntergekommenen, morbide schönen Ballsaal verlegte. Mit Video-Projektionen und geschickten Lichteffekten verwandelte er auch das Liebeswirrwarr im Wald in ein Traumspiel, das in seinen besten Momenten an die erotischen Auseinandersetzungen in Stanley Kubricks „Eyes Wide Shut“ erinnerte – und den gar nicht pittoresken Kern von Shakespeares Text freilegte.

Zwei Jahre zuvor erzählte er in seiner Bühnenadaption des schwedischen Spielfilms „Zusammen!“ eine Geschichte im Stil des Filmemacher-Manifests „Dogma 95“, für die er die Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühne aufhob. Zwischen Küchenplänen und politischem Sex konnte jeder auf Sofas und Sitzkissen verfolgen, wie die Ideale von freier Liebe und Mitbestimmung in der Praxis scheitern.

Ideale, die Fiedler während seiner Kindheit in einer Kommune nahe Hamburg selbst miterlebt hat. Zum Abschluss des Abends öffneten sich dann folgerichtig die Türen zum Ballhof-Vorplatz, wo der Regisseur höchstselbst an einem riesigen Suppentopf für alle Besucher kochte. Denn der Gruppen-Gedanke ist dem streitbaren Regisseur wichtig. Auch am Theater Oberhausen, wo Fiedler nun in der Spielzeit 2017/18 Intendant wird, hat er sich mit seinem gesamten Dramaturgie-Team gemeinsam beworben.

Politisch engagiert

In der Gruppe zu arbeiten, bedeutet für Fiedler immer auch, sich gemeinsam politisch zu engagieren. Bevor er begann, Theater zu machen, habe er Demos organisiert, erzählte Fiedler einmal in einem Interview. Die Lust an der performativen Protest-Bekundung brachte er nach Hannover mit, wo er ganz zu Beginn mit einem Hüttendorf gegen Atomkraft auf dem Ballhof-Vorplatz auf sich aufmerksam machte. Die mehrtägige Aktion mit Hüttenbau-Workshops für Jugendliche führte zu einer regen Diskussion darüber, was eigentlich die Aufgabe von Theater sei. Böse Stimmen sprachen damals von einem Nachwuchscamp für angehende Demonstranten.

Auch in „Mythen der Freiheit“ zog Fiedler gegen den ungeliebten Staat zu Felde. Für das musikalische Projekt mit der Agitprop-Band Rainer von Vielen kutschierte der Regisseur sein junges Publikum mit Bussen bis ins Wendland, dem fast mythischen Landstrich der außerparlamentarischen Protestbewegung. Fast so idyllisch wie in Heidis (geträumter) Bergwelt ist es dort – wenn gerade keine Castor-Transporte rollen.

Auffallend ist allerdings, das Fiedlers Abende vor allem dann stark sind, wenn es weniger um politische Manifeste als um komplexe menschliche Beziehungen und die Liebe geht. Wie in der Geschichte von Heidi, die der Regisseur denn auch eine „Anarchistin der Liebe“ nennt. Hier darf sich der große Träumer ungehindert vom politischen Über-Ich austoben und findet im Einklang mit den eigenen, starken Emotionen zu erstaunlichen Kompositionen.

So, 27.11., 17 Uhr, Schauspiel Hannover. Aufführungen bis März 2017

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