Kommentar Bildungsbürgerdünkel: Herakles, Jesus, Guttenberg

Weil Dr. Hinz und Dr. Kunz einen haben, brauchte auch der Freiherr einen Doktortitel. Doch erst der Makel macht aus dem Überflieger einen Helden im klassischen Sinne.

Von Bildungsbürgern verhasst, von Proleten geliebt: KT zu Guttenberg Bild: reuters

Der Akademiker versteht das schwer: Da hat einer beschissen und betrogen, was das Zeug hielt, hat sich obendrein dabei unglaublich dumm und selten dreist angestellt und lässt noch immer jede Einsicht in die Sträflichkeit seines Tuns vermissen. Und doch hält das Volk, jedenfalls ein beachtlicher Teil davon, zu ihm: Die Facebookseiten "Gegen die Jagd auf Karl-Theodor zu Guttenberg" und "Wir wollen Guttenberg zurück" verzeichnen hunderttausende Mitglieder, und laut einer Umfrage des ZDF-Politbarometers vom Freitag sehen Dreiviertel der Deutschen nicht ein, warum Karl-Theodor zu Guttenberg, ihr nach wie vor liebster Politiker, zurücktreten sollte.

Wie kann das sein?

Lassen wir die simpelste, aber unzureichende Erklärung (Anhänger der CDU/CSU wollen sich nicht mit dem Fall des Kronprinzen abfinden) ganz und die zweiteinfachste (die Sehnsucht nach einem Führer oder wenigstens Kaiser) für den Moment beiseite und beginnen mit einer dritten Erklärung: die Vermenschlichung eines Helden.

Denn ein echter Held, also einer, den das Publikum nicht nur bewundert und verehrt, sondern mit dem es sich auch identifiziert, braucht etwas Menschliches, gern auch Tragisches: Herakles erschlägt im Wahnsinn seine Familie, Lancelot begeht mit der Frau seines Königs Ehebruch, Jesus zweifelt an Gott. Ob die Ferse des Achill oder die Haare des Samson – jeder bessere Held hat Schwächen und Makel. Aber erst die seine Verwundbarkeit macht es gewöhnlichen Menschen möglich, sich in ihn hineinzuversetzen, erst seine Fehlbarkeit macht ihn interessant und liebenswert. Wenn das Publikum sich schon nach einem Monarchen sehnt, dann nach einem echten Helden – nach einem mit menschlichen Antlitz.

Und für diese Rolle eignet sich Guttenberg nicht weniger, sondern mehr als je zuvor. Hätte er von Anfang an sein Vergehen eingestanden, er wäre vielleicht genauso gestärkt aus der Affäre hervorgegangen wie einst Joschka Fischer aus der Debatte um seine linksradikale Vergangenheit, die, trotz des Geschreis der Union, der Bild oder des Focus, dessen Beliebtheit kein bisschen schadete. So aber hat Guttenberg, noch indem er in seiner Rücktrittserklärung viel Pathos, aber keine Zerknirschung demonstrierte , das Skript seines Comebacks geschrieben: Erst die (von unzähligen Lektoren überprüfte) Autobiografie (irgendwas von Aufstieg und Fall), dann die rührenden Auftritte in den Heulsusen-Talkshows (irgendwas von Reue und Familie), schließlich die umjubelte Rede auf dem Aschermittwoch der CSU (irgendwas von Deutschland und Verantwortung), kurz: die Rückkehr des geläuterten und vermenschlichten Helden.

Aber worauf die einen schon am Dienstag zu warten begonnen haben, ist den anderen ein Graus. Schließlich werden die Sympathien für Guttenberg nicht minder leidenschaftlich vorgetragen werden wie die Empörung über ihn.

Woher kommt das? "Ganz erlich alle behinderet da oben, ich will nicht wissen wie viel jugendsünden die anderen politiker alle gemacht haben", kommentiert ein Supermarktangestellter auf einer Pro-Guttenberg-Seite, und schon der Stil dieses in jeder Hinsicht typischen Eintrags deutet darauf, dass in dieser Sache Empathie und Empörung weniger zwischen Links, Mitte und Rechts, aber umso mehr zwischen Oben, Mitte und Unten verteilt sind. Die Frisörin oder der Bauarbeiter erinnern sich an die eigenen Spickzettel, mit denen sie durch manche Klassenarbeit kamen und können in Guttenbergs Abkupferei kein großes Vergehen erkennen. Das eint sie mit Leuten aus großbürgerlichem oder aristokratischem Haus, mit Guttenberg selbst, dem man es getrost abnehmen kann, dass er die Empörung nicht wirklich versteht. Denn für ihn war der Doktor nur einer unter mehreren Titeln; einer, den er zwar schon deshalb brauchte, weil Herr Dr. Hinz und Frau Dr. Kunz ihn auch hatten, aber nicht der Ritterschlag, den hatte er schon; nicht der Ausweis, "es geschafft" zu haben, das hatte er schon mit seiner Geburt. (Dies dürfte auch der Grund dafür sein, warum er nicht einmal einen ordentlichen Ghostwriter beauftragt hat: Es war ihm halt nicht so wichtig.)

Das aber unterscheidet ihn von all jenen, die ihren eigenen sozialen Aufstieg allein oder vorrangig ihrer Ausbildung zu verdanken haben und die deshalb auch "die Bildung" als Allheilmittel für dit und dat halten, egal ob es gerade um Globalisierung, Armut oder Rechtsextremismus geht. Die Bildungsbürger sind denn auch diejenigen, die sich am meisten über Guttenberg aufregen – und am wenigsten verstehen, warum nicht ein jeder ihre Empörung teilt. Ihre Sorge gilt nicht "der Wissenschaft", sondern sich selbst; sie sind wütend, weil sich einer, noch dazu so einer, das, wofür sie selbst geschwitzt und geackert und geblutet haben, einfach so ergaunert hat. Die Aufregung um Guttenberg ist partikularer Standesdünkel des Bildungsbürgertums. Sie ist – im besten wie im schlechtesten Sinn des Wortes – bürgerlich. Nicht unbegründet, aber eben auch ein wenig langweilig.

Und, da wir gerade dabei sind und unter uns: Sind Leute, die nie etwas im Supermarkt geklaut, niemals einen Pflasterstein geworfen oder ein Amt übers Ohr gehauen haben, nicht furchterregender als ein tricksender Freiherr? Wer will solche Leute schon zu Nachbarn haben? Oder von ihnen regiert werden?

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Von Juli 2007 bis April 2015 bei der taz. Autor und Besonderer Redakteur für Aufgaben (Sonderprojekte, Seite Eins u.a.). Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2011. „Journalist des Jahres“ (Sonderpreis) 2014 mit „Hate Poetry“. Autor des Buches „Taksim ist überall“ (Edition Nautilus, 2014). Wechselte danach zur Tageszeitung Die Welt.

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