Ukrainische Exil-Community in Berlin: Von Schuld und Schokolade

Der Krieg gegen die Ukraine bekommt immer weniger Aufmerksamkeit. Die Ak­ti­vis­t:in­nen von Vitsche halten dagegen.

Vlada Urobiova mit ukrainischer Flagge um die Schultern, , Krista-Marija Läbe und Pavlo Melnyk, der ein Transparent hält: #BOYCOTTMILKA

Milka im Blick: Ak­ti­vis­t:in­nen Vlada Vorobiova, Krista-Marija Läbe und Pavlo Melnyk in Berlin Foto: Wolfgang Borrs

Ein Donnerstagmorgen Mitte November. Das politische Berlin ist auf dem Weg zur Arbeit, in den Straßen im Regierungsviertel staut sich der Verkehr. Am Rand der Wiese vor dem Reichstag stehen knapp 30 Menschen, die meisten Mitte zwanzig. Viele haben sich blau-gelbe Fahnen wie Umhänge umgebunden. Eine Frau hält ein Bild zerbombter Häuser hoch, eine andere ruft in ein Megafon: „Taurus jetzt! Taurus jetzt!“

Ein Polizist tritt auf die Gruppe zu. Die Kundgebung sei zu kurzfristig angemeldet worden, es gebe keine Erlaubnis, innerhalb der Bannmeile um das Parlament zu demonstrieren: „Bitte gehen Sie auf die andere Straßenseite. Dort dürfen Sie das.“ Ein wenig murrend folgen die Protestierenden der Aufforderung. Noch einmal zehn Meter weiter entfernt vom Reichstag stellen sie sich wieder auf.

Deutschland redet an diesem Novembermorgen über den Warnstreik der Lokführer, das Milliardenloch im Haushalt, die Krise der Ampel, die israelische Armee in Gaza. Die Lage in der Ukraine kommt in den Radionachrichten ganz am Ende. Der große Krieg im Osten Europas ist in der deutschen Medienöffentlichkeit auf die hinteren Plätze gerutscht.

Düstere Aussichten an der Front

Dazu kommt die militärische Lage: Die Erfolge der ukrainischen Gegenoffensive sind weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Das hat auch der oberste ukrainische General Walerij Saluschnyj eingeräumt. Die Aussichten für den Winter sind düster. Russland fährt seine Rüstung weiter hoch, die EU scheitert dagegen am selbstgesteckten Ziel, der Ukraine bis kommenden März eine Million Artilleriegeschosse zur Verfügung zu stellen.

Und in der deutschen Debatte um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern herrscht Stillstand. Die Argumente sind alle ausgetauscht, Großbritannien, Frankreich und die USA haben weitreichende Waffen geliefert, das Kanzleramt will das weiterhin nicht, dabei könnten die Taurus der Ukraine helfen, russische Versorgungslinien zu kappen.

Wie blicken Vertreter der ukrainischen Community in Deutschland auf diese Situation? Und wie gehen sie mit der gesunkenen Aufmerksamkeit und den düsteren Aussichten um?

Die Organisation „Vitsche – Vereinigung von Ukrai­ne­r*in­nen in Deutschland“ hat zu dem Protest im Regierungsviertel aufgerufen. Im Bundestag soll an diesem Vormittag mal wieder über die Marschflugköper diskutiert werden. Die Unionsfraktion hat einen Antrag auf sofortige Lieferung eingebracht. Er wird später in den Auswärtigen Ausschuss überwiesen werden, Aussichten auf eine Mehrheit im Parlament hat er nicht.

Krista-Marija Läbe, Vitsche

„Wir wissen, dass es auch andere Kriege gibt. Aber die Welt darf die Ukraine nicht vergessen“

Es geht auch um Bilder

Auf einem Fahrrad rollt ein Mann mit Kind im Kindersitz an der Gruppe der Demonstrierenden vorbei. Er hebt seine rechte Faust als Zeichen der Solidarität. „Wir leben hier in Sicherheit, deshalb müssen wir alles dafür geben, dass nicht in ein paar Jahren auch hier 25-Jährige in den Krieg ziehen müssen“, sagt eine junge Frau mit weißer Wollmütze ins Megafon. „Wenn Russland Erfolg in der Ukraine hat, wird es nicht aufhören.“

Die Frau mit der Wollmütze heißt Krista-Marija Läbe. Sie ist Sprecherin von Vitsche. „Wir wissen, dass es auch andere Kriege, auch anderes Leid gibt“, sagt sie wenig später über die abnehmende Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. „Aber die Welt darf die Ukrai­ne nicht vergessen.“

Bei der kleinen Demo vorm Reichstag gehe es vor allem auch darum, Bilder für die Social-Media-­Kanäle zu produzieren. „Es ist einfach eine Möglichkeit, weiter Aufmerksamkeit auf dem Thema zu halten.“

Ein paar Tage später sitzt Läbe mit einigen Mitstreitern im Büro von Vitsche, sie planen die nächsten Aktionen. In Kreuzberg hat die Organisation in einem alten Backsteingebäude einen Raum in einer Coworking-Etage angemietet. Vitsche, das sind vor allem junge Ukrai­ne­r:in­nen – viele leben bereits seit Jahren in Deutschland, aber es engagieren sich hier auch jene, die nach dem 24. Februar 2022 nach Berlin geflohen sind.

Schuldgefühle, weil man selbst in Sicherheit ist

Läbe ist 26 Jahre alt. Sie hat eine ukrainische Mutter und einen deutschen Vater. Geboren ist sie in Ternopil, im Westen der Ukraine. Mit drei Jahren kam sie nach Deutschland, ist in der Oberpfalz aufgewachsen, studierte dann in Berlin. Heute arbeitet sie als Marketingmanagerin, engagiert sich als in ihrer Freizeit als Vitsche-Sprecherin. „Ich habe lange nach Kontakten zur ukrainischen Community gesucht, weil es Teil meiner Identität ist“, erzählt sie. „Die habe ich erst nach Beginn des großen Kriegs gefunden, weil ich bei Vitsche auf Menschen mit denselben Erfahrungen getroffen bin.“

Es ist der Kontrast zwischen dem geregelten Alltag in Deutschland und jenem der Familienmitglieder und Freunde, die in einem Land leben, wo auch in Dörfern und Städten abseits der Front jederzeit eine russische Rakete Menschen töten kann. Und wo jeder jemanden kennt, der in der Armee kämpft. Mit „Survivor Guilt“ hätten sie alle hier auf die eine oder andere Weise zu ringen, sagt Läbe. Mit Schuldgefühlen, weil man selbst in Sicherheit lebt. Die Antwort der meisten darauf: sich noch mehr engagieren.

Mit Läbe am Tisch sitzen Vlada Vorobiova und Pavlo Melnyk. Beide sind Mitgründer von Vitsche, waren bereits bei den ersten Demos im Januar 2022 dabei, als Russland immer mehr Truppen an den Grenzen zur Ukraine zusammenzog. Vlada Vorobiova kommt aus Charkiw, ihr Vater zog vor sieben Jahren mit ihr nach Berlin. Sie machte ihr Abitur, begann ein Studium. „Aber als der große Krieg losging, merkte ich, dass ich mich nicht auf so abstrakte Dinge wie Philosophie und Kunst konzentrieren konnte.“ Seitdem arbeitet sie in einer ukrainischen Bar, organisiert die Demos von Vitsche, hilft, wo sie kann.

Pavlo Melnyk kam vor sieben Jahren zum Wirtschaftsstudium nach Worms, bekam danach einen Job als Produktmanager bei einem Softwarekonzern. „Ich werde öfters von internationalen Freunden gefragt: Was ist eigentlich in der Ukraine los? Geht das Kämpfen noch weiter?“, erzählt er. „Das ist schmerzhaft, denn es ist ja schlimmer denn je.“

Und trotzdem: Wenn sie auf die deutsche Debatte seit Kriegsbeginn blicken, sind sie sich am Tisch einig, dass es Fortschritte gegeben hat. „Am Anfang wurde sehr viel über die Ukraine gesprochen, ohne eine ukrainische Stimme“, sagt Krista-Marija Läbe. „Und es redeten Leute, die überhaupt keine Ahnung von dem Land hatten. Das hat sich verändert.“

Aber ja, sie hörten immer wieder auch vermeintlich gut gemeinte Ratschläge, die Ukraine solle am besten aufhören zu kämpfen. „Dann jedoch hört die Ukraine auf zu existieren“, sagt Läbe. „Sie hat keine andere Wahl, als weiterzukämpfen.“

Im ersten Jahr hat Vitsche noch direkt humanitäre Hilfe vor Ort organisiert. Das überlassen sie mittlerweile Partnerorganisationen, für die sie Spenden sammeln. „Wir haben einfach gemerkt, dass das effizienter ist“, sagt Pavlo Melnyk. Vitsche konzentriert sich auf Proteste sowie Kultur- und Bildungsveranstaltungen zur Ukraine. Die Demos sind aber deutlich kleiner geworden, sagt Vlada Vorobiova. „Viele Ukrainer, die hierher geflohen sind, sind damit beschäftigt, sich zu integrieren. Sie haben oft nicht die Zeit für Demos.“

Saisongerechter Protest

Statt nur bei einzelnen Anlässen zu protestieren, haben sie bei Vitsche aber nun auch ihre Strategie geändert. „Wir versuchen längere Projekte zu machen und einzelne Themen in den Vordergrund zu stellen“, sagt Pavlo Melnyk.

Wie das aussieht, kann man ein paar Tage später auf dem Hackeschen Markt in Berlin-Mitte sehen. Es ist der letzte Sonntag im November, die Temperaturen sind unter null gefallen. Auf dem Platz versammelt sich eine kleine Gruppe. Neben ukrainischen Fahnen fallen zwei Demonstrantinnen auf, die in schwarz-weiß-lila Kuhkostümen stecken. Ihre Hörner und Vorderhufe sind blutverschmiert. Auf großen Plakaten steht: #BoycottMilka. Dazu das Bild eines Stücks Schokolade in Form einer Artilleriegranate.

Milka gehört zum US-Lebensmittelkonzern Mondelez – wie auch Toblerone, Oreo oder Marabou. Der Konzern produziert weiterhin in Russland. Damit verstößt er nicht gegen Sanktionen. Aber mit seinen Steuern trägt er zum russischen Haushalt bei, mit dem der Angriffskrieg finanziert wird. Mit Kritik konfrontiert, antwortet Mondelez in einem Statement, man stelle „Grundnahrungsmittel des täglichen Bedarfs“ her und habe auch eine Verantwortung für etwa 3.000 russische Angestellte.

Nach Berechnungen der Kyiv School of Economics hat Mondelez 2022 in Russland Gewinnsteuern in Höhe von 62 Millionen Dollar gezahlt. In Norwegen und Schweden haben deshalb mehrere große Unternehmen Produkte von Mondelez aus ihrem Angebot verbannt.

Die Kampagne von Vitsche ist auf die Vorweihnachtszeit abgestimmt. Deshalb haben sie Milka aus den vielen Firmen, die weiter in Russland Geld verdienen, herausgepickt. Die Kühe verteilen Infoblätter an Passanten, die Gruppe stellt sich in einem Halbkreis auf. Aus Megafonen schallt: „Keine Geschäfte mit Russland“ und „Boykott Milka“. Dazwischen gibt es längere Redebeiträge in Ukrainisch, Englisch, Deutsch.

Nur wenige Passanten bleiben stehen, beginnen, die Zettel zu lesen. Die meisten haben es eilig, der Wind ist eisig. Nach anderthalb Stunden ist die Kundgebung vorbei, die zwei Frauen schlüpfen aus ihren Kostümen, die Vitsche-Leute packen zusammen. Trotz der Kälte ist die Stimmung gelöst. Sie sprechen über die nächsten Aktionen.

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