Hype um eine neue Abnehmspritze: Technologieoffen in die Essstörung

Das Diabetesmittel Ozempic wird gekauft und gekauft und gekauft. Pervers ist der Trend nicht nur wegen des Abnehmwahns, der dahinter steht.

Kim Kardashian

Technologieoffen: Kim Kardashian auf der Met Gala in New York Foto: Avalon/imago

Wie so viele Geschichten, die von fragwürdigen Beauty-Eingriffen und neuen Standards in Sachen Schönheit handeln, beginnt auch diese mit Kim Kardashian. Anfang 2022 beschließt sie, zur anstehenden Met Gala ein Stück amerikanische Geschichte auf der Haut zu tragen: das Kleid, in dem Marilyn Monroe „Happy Birthday, Mr. President“ hauchte.

Weil aber der Reißverschluss nicht zugeht, verordnet sie sich ein Bootcamp, das dann auch gleich zum Handlungsstrang ihrer Reality-Show wird. Von morgens bis abends ackert Kardashian auf dem Stepper, um Monroe figürlich näherzukommen.

Am Schluss passt sie ins Dress und bringt nebenbei einen Körpertrend zurück, dessen Ära man gesellschaftlich überwunden geglaubt hatte: den „Heroin Chic“ aus den Neunzigern und frühen Nuller Jahren – eine Zeit, geprägt von Low-Rise-Jeans und Kate Moss’ Worten wie „Nichts schmeckt so gut, wie sich dünn sein anfühlt.“ Dass nun auch dieses Mantra des Grauens ein Comeback feiern darf, verdanken wir dem Diabetesmittel „Ozempic“.

Denn um in kürzester Zeit die nötigen Kilos abzunehmen, soll Kardashian medikamentös nachgeholfen haben. Der Wirkstoff Semaglutid senkt den Blutzuckerspiegel und suggeriert dem Hirn, appetitlos zu sein.

17 Prozent Gewichtsverlust

Fett- und kohlenhydratreiches Essen, das normalerweise das Belohnungszen­trum ankurbelt, hat keinen Effekt mehr. Bis zu 17 Prozent ihres Körpergewichts verlieren Menschen, die die Spritze regelmäßig anwenden.

Sie löste einen Hype aus, erst unter Hollywoodstars, dann auf Tiktok. Mittlerweile injizieren sich junge Frauen das Zeug vor laufenden Kameras und dokumentieren, wie ihre Bäuche immer flacher werden. Möglich macht das der sogenannte Off-Label-Use, der die Anwendung einer Arznei für eine Behandlung erlaubt, für die sie eigentlich nicht zugelassen ist.

Me­di­zi­ne­r:in­nen warnen vor starken Nebenwirkungen von Übelkeit bis Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Und tatsächlich gibt es auf Social Media neben den „Weightloss-Journeys“ auch diese Videos: weinende Anwenderinnen, die von tagelangen Magenkrämpfen berichten.

Das ist tragisch. Wirklich pervers wird es aber, wenn Diabetes-Erkrankte mit den Folgen der übermäßigen Nachfrage zu kämpfen haben. Immer wieder klagen sie über Engpässe und befürchten ernsthafte gesundheitliche Komplikationen, wenn sie Ozempic unfreiwillig absetzen müssen, denn Hersteller weltweit kommen mit dem Run auf das Mittel kaum hinterher.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Der dänische Pharmakonzern Novo Nordisk, der die Spritze seit Juli unter anderem auch in Deutschland vertreibt, hat einen solchen Erfolg damit, dass sein Umsatz im ersten Halbjahr 2023 um fast ein Drittel stieg. Damit ist das Unternehmen so wertvoll wie kein anderes in Europa, und Dänemark freut sich über das Wirtschaftswachstum. Passenderweise bezeichnete die Journalistin Elisabeth Raether, die sich für die Zeit einem Selbstversuch unterzog, Ozempic als „die FDP-Lösung“ für körperlichen Verzicht. Technologieoffen auf dem Weg in die Essstörung sozusagen.

Angesichts der zahlreichen überwiegend jungen Frauen, die sich für Privatrezepte verschulden, Schmerzen erdulden und in Kauf nehmen, dass eine wirklich kranke Person nicht an ihr Medikament kommt, alles gar nicht lustig. Klar ist aber: Verantwortung tragen vor allem Ärzt:innen, die leichtfertig Verschreibungen herausgeben für die Spritze – und Celebrities, an deren Körper-Obsessionen sich so viele orientieren.

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Jahrgang 1992, Politik- und Anglistikstudium in Bonn, danach Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Seit 2018 im Onlineressort der taz.

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