Interview mit Militärexperten zur Ukraine: „Wir haben die Minen unterschätzt“

Die Gegenoffensive der Ukraine läuft schleppender als erwartet, räumt Militärexperte Nico Lange ein – und ärgert sich über Endlosdiskussionen.

Soldaten auf einer Dorfstraße.

Ukrainischen Soldaten in Vremivka an der Front im Donetsk im Juli 2023 Foto: Sofiia Gatilova/reuters

wochentaz: Herr Lange, Anfang Juni begann die ukrainische Gegenoffensive. Wo steht sie jetzt nach zweieinhalb Monaten?

Nico Lange: Es gab ja zuvor sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie sie ablaufen könnte. Viele Menschen in der Ukraine und viele ausländische Partner hatten die Hoffnung, dass man mit den westlichen Kampf- und Schützenpanzern und mit dem Gefecht der verbundenen Waffen, also dem abgestimmten Zusammenspiel verschiedener Truppenteile, die Verteidigungslinien der Russen im Süden der Ukraine durchbrechen könnte. Diese Annahme war zu optimistisch. Auch ich selbst war da zu optimistisch, muss ich eingestehen. Wir haben alle die Minenfelder unterschätzt.

48, ist Senior Fellow der Münchner Sicherheitskonferenz und lehrt am Lehrstuhl für Militärgeschichte der Universität Potsdam. Er war 2019 bis 2022 Leiter des Leitungsstabs im Verteidigungsministerium. Er lebte und arbeite lange in der Ukraine und in Russland und spricht fließend Ukrainisch und Russisch.

Wieso das?

Diese Felder sind nicht vergleichbar mit jenen, die man etwa aus den 1990er Jahren vom Balkan kennt. Es gibt damit keine Erfahrungen. Sie sind sehr groß, die Minen sind sehr dicht gelegt, teils auch moderne Minen, die etwa an Fahrzeugen haften bleiben und erst später explodieren – vor allem werden diese Felder aber permanent gemanagt. Das heißt, auch während die Ukraine vorzurücken und Schneisen zu räumen versucht, verteilen russische Minenwerfer dort immer neue Minen. Hinzu kommt, dass alles auf offenem Gelände stattfindet, wo man von Weitem gesehen wird. Womöglich braucht es da ganz neue Lösungen fürs Räumen, mit Drohnen und autonomen Systemen. In diese Richtung wird gerade experimentiert. Es gibt aber noch einen anderen Punkt, der westliche Beobachter überrascht hat.

Und zwar?

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Die Ukraine kämpft nicht so, wie sich das manche mit dem Gefecht der verbundenen Waffen erhofft hatten – vielleicht, weil sie es nicht kann, weil die Zeit zum Üben mit den neuen Waffensystemen zu kurz war, vielleicht aber auch, weil viele Ukrainer sich eher auf das verlassen, was sie gelernt haben. Das hat zu sehr kleinen und langsamen Vorstößen geführt. Und, das muss man ehrlich zugeben, auch zu einem gewissen Rätselraten unter Beobachtern. Warum greift die Ukraine ausgerechnet dort an, wo Russland nachgewiesenermaßen die stärksten Verteidigungsstellungen hat? Warum passiert das in so kleinen Formationen, die wie auf dem Präsentierteller angefahren kommen? Es ist eine sehr schwierige Situation.

Es gab letzthin aber kleinere Erfolgsmeldungen …

In den vergangenen zwei Wochen scheint sich die Situation verbessert zu haben. Die Ukraine macht Fortschritte an zwei Stellen an der Front, im Süden bei den Dörfern Robotyne und Uroschaine. Sie hat sich das mühevoll erarbeitet. Aber wenn man das mit dem Ausgangspunkt der Gegenoffensive vergleicht, reden wir davon, dass man seit Juni 10, vielleicht 15 Kilometer vorangekommen ist.

Von dem Versuch, in einen Bewegungskrieg zu kommen, ist man jetzt wieder bei einem Abnutzungskrieg gelandet.

Zu Beginn der Offensive hat die Ukraine es mit schnellen Vorstößen probiert, festgestellt, das funktioniert nicht gut, und dann ihre Taktik geändert. Das, was manche Beobachter hier bei uns sagen – „Russland ist sowieso überlegen, es hat alles keinen Sinn, die Sache ist gelaufen“ –, ist für die Ukraine einfach keine Option. Die große Mehrheit der Menschen in der Ukraine will ihre Landsleute nicht unter Folter und Unterdrückung zurücklassen. Deswegen versucht man, irgendwie auch ohne Luftüberlegenheit und trotz der Minenfelder voranzukommen. Man hat sich jetzt auf eine langsame Vorgehensweise verlegt, um zunächst die russische Logistik zu schwächen und die russische Artillerie Schritt für Schritt zu dezimieren, auch die Kampfhubschrauber, damit Durchbrüche später einfacher werden. Das führt aber dazu, dass die politische Erwartungshaltung und die militärische Realität nicht mehr zusammenpassen.

Wie meinen Sie das?

Weil das jetzige Vorgehen der Ukraine langsam und mühevoll ist, wird die Offensive sich ins nächste Jahr hineinziehen. Die politische Erwartungshaltung bei vielen war aber: Da gibt es jetzt einen schnellen Durchbruch, dann verändert sich die Situation, dann kommen Verhandlungen, dann gibt es einen Waffenstillstand und Frieden. Jetzt muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass alles viel länger dauert.

Wie ist die Lage auf der Krim? Die wurde in den vergangenen Wochen immer wieder mit Raketen und Drohnen angegriffen.

Die Ukraine attackiert dort Munitionsdepots, militärische Einrichtungen und Nachschublinien. Auch die Brücken sind ja legitime Ziele, weil die Krim ein wichtiges Aufmarsch- und Versorgungsgebiet der russischen Armee ist. Es geht im Moment nicht darum, die Krim militärisch zu erobern, auch wenn die Ukraine das immer wieder hochhält, sondern darum, die russische Logistik zu schwächen. Und das gelingt auch. Die Lage auf der Krim ist angespannt, wenngleich Russland sich bemüht, das zu übertünchen. Über die Brücken läuft nur noch wenig Verkehr. Züge rollen gar nicht, das führt teils schon zu Treibstoffmangel.

Neben der Bedeutung für die russische Logistik hat die Halbinsel auch einen hohen symbolischen Wert.

Sie ist ein psychologischer Druckpunkt bei Wladimir Putin, auch für die russische Öffentlichkeit generell. Putin kann es sich nicht leisten, sie zu verlieren. Die politisch interessante Frage ist, was passiert, wenn die Zugänge zur Krim ganz zerstört werden und eine Versorgung kaum noch möglich ist. Dann läuft die Zeit gegen Russland. Aber wird dieser Druck ausreichen, damit eine ernsthafte Verhandlungsbereitschaft entsteht, die es bisher ja nicht gibt?

Deutschland zögert unterdessen, ob es der Ukraine den Marschflugkörper Taurus mit bis zu 500 Kilometern Reichweite liefern soll.

Natürlich wäre es wichtig, dass die Ukraine bei den Marschflugkörpern Nachschub bekommt. Großbritannien und Frankreich liefern diese ja schon. Deutschland sollte auch seinen Anteil leisten. Aber man muss auch sagen: So wie wir die Debatte über einzelne Waffensysteme in Deutschland aufladen, entsteht immer der Eindruck, jetzt kommt der große Gamechanger. Den gibt es aber nicht. Es gibt nicht die eine Waffe, die alles entscheidet. Die Ukraine braucht genauso dringend große Mengen Artilleriemunition. Da könnten wir als große Industrienation viel mehr tun. Außerdem braucht sie auch mehr Drohnen, Drohnenabwehr, Minenräumfahrzeuge. Stattdessen wird mit der Taurus-Diskussion die Debatte von der Ukraine weggeführt.

Inwiefern?

Es geht dann mehr darum, wer in Berlin was dazu gesagt hat, wer mit wem dafür ist, wer sich dagegenstellt. Diese Diskussion gibt es ja, weil ein Teil der an der Debatte Beteiligten doch im Grunde immer noch auf dem Standpunkt steht: Wenn man keine Waffen geliefert hätte, wäre das viel besser gewesen. Wir sind eigentlich in diesem Grundkonflikt stehen geblieben. In anderen westlichen Ländern sehe ich das nicht so, dass man in einem Endloskreis immer wieder die alten Argumente wiederholt.

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