Pandemiestrategie in China: Chinas Trauma

Erst strengste Nullcovidpolitik, jetzt Durchseuchung. Die chinesische Staatsführung nimmt mit ihrer Jojo-Politik eine Million Tote in Kauf.

Menschen und Fahrzeuge vor einem Bestattungshaus

Großer Andrang in einem Bestattungshaus in Peking am 17. Dezember Foto: Alessandro Diviggiano/reuters

Ein geradezu surreales Nebeneinander ist derzeit in Chinas Hauptstadt zu erleben. Da sitzen etwa in Sportbars die Feierwütigen wieder bis tief in die Nacht vor Fassbier und Tequila-Shots. Und gleichzeitig reihen sich die Leichenwägen vor den Bestattungsinstituten der Stadt im bitterkalten Dezember zu langen Trauer­schlangen.

In nur wenigen Wochen hat das bevölkerungsreichste Land der Welt eine pandemische Kehrtwende hingelegt, die extremer nicht sein könnte, von einer drakonischen „Null Covid“-Paranoia hin zur schnellstmöglichen Durchseuchung.

Das Virus, das einst als tödliche Gefahr galt, ist nun in den Staatsmedien nur noch eine gewöhnliche Grippe. In Peking, das als Erstes von der Omi­kron-­Welle getroffen wurde, ließ sich beobachten, wie Kliniken überrannt wurden, sich selbst das Krankenhauspersonal zuhauf infizierte und Fiebermedikamente auf dem Schwarzmarkt gehandelt wurden. Nun jedoch kehrt das öffentliche Leben allmählich wieder zurück, und Tag für Tag bevölkert eine wachsende Zahl Genesener die Restaurants, Shopping-Malls und ­U-Bahnen.

Auch wenn nun scheinbar Normalität einkehrt, bleiben doch Narben, die zweieinhalb Jahre „Null Covid“ hinterlassen haben. Monatelang waren Millionen Menschen in ihre Wohnungen eingesperrt, haben ihre Arbeit verloren und konnten ihre Familienmitglieder nicht besuchen – nur, um scheinbar willkürlich von einem Tag auf den anderen gesagt zu bekommen, dass das „gefährliche Virus“ nun doch nur eine „gewöhnliche Grippe“ sei.

Die Regierung bleibt den 1,4 Milliarden Chinesen und Chinesinnen schlüssige Erklärungen für ihre Pandemiepolitik schuldig. Die Menschen sollen akzeptieren, was die Staatsführung vorgibt, und den Regeln folgen.

Die Null-Covid-Politik hat ­Menschen traumatisiert

Es ist natürlich kein Zufall, dass der derzeit meist geteilte Artikel auf der Online-Plattform Weibo die psychische Verfassung der Menschen im Land unter die Lupe nimmt. Darin heißt es, dass es noch bis zu 20 Jahre dauern könne, ehe sich die Bevölkerung von den induzierten Depressionen, Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen erholen könne.

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Für Außenstehende ist kaum vorstellbar, welches Ohnmachtsgefühl die Chinesen und Chinesinnen zuletzt erlebt haben. Wenn sie abends ins Bett gingen, wussten sie nicht, ob am nächsten Morgen ihr Wohnhaus von Leuten in Seuchenschutzanzügen abgeriegelt sein würde – oder albtraumhafter noch, ob der Krankenwagen sie in eines der Quarantänelager verschleppt.

Jetzt allerdings sind die Sorgen andere: Dass nämlich das Gesundheitssystem kollabieren könnte. In Schanghai haben die Behörden die Schulen angewiesen, auf Online-Unterricht auszuweichen. Denn die Wirtschaftsmetropole steht gerade auf dem Höhepunkt des rasanten Infektionsausbruchs. Derzeit liegen die meisten Bewohner und Bewohnerinnen mit Fieber im Bett.

Der wahre Stresstest wird jedoch in den Hinterlandprovinzen erfolgen: Dort, wo das Gesundheitssystem rudimentär entwickelt und das nächste moderne Krankenhaus oft mehrere Autostunden entfernt ist.

Es scheint, als habe sich die chinesische Regierung für das Motto „kurz, aber schmerzlos“ entschieden. Gesundheitsexperte Yanzhong Huang vom New Yorker Council on Foreign Relations schreibt von einer „neuen Strategie“: Anstatt die Infektionskurve flach zu halten, scheint die chinesische Regierung eine schnellstmögliche Infizierung der Bevölkerung erzielen zu wollen. Tatsächlich haben bereits mehrere Lokalregierungen die Menschen aufgefordert, trotz milder Covid-Symptome wie gewohnt zur Arbeit zu erscheinen.

Die Parteizeitung Global Times schrieb euphemistisch von einer „besseren Balance zwischen epidemischer Vorbeugung und sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung“. Ausgerechnet im zentralchinesischen Zheng­zhou lässt sich beobachten, wie sehr die ­pandemische Jojo-Politik ganz offen auf dem Rücken der Arbeitsmigranten ausgetragen wird. In der überdimensionalen „IPhone-City“, wo rund 200.000 Menschen für den Apple-Zulieferer Foxconn am Fließband schuften, hat sich das Coronavirus bereits rasch ausgebreitet – kein Wunder, hausen die Arbeiter und Arbeiterinnen doch zu acht in spartanischen Zimmern.

Offiziell müssen sich die Infizierten isolieren. Doch tatsächlich raten die Vorgesetzten, sich trotz Symptomen schlicht nicht testen zu lassen. Und so müssen viele von ihnen mit Fieber weiterhin ihre 11-Stunden-Schichten im Akkord absolvieren – all das, um den taumelnden Wirtschaftsmotor möglichst rasch wieder anzukurbeln.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bereits klargestellt, dass das globale Ende der Pandemie durch die massiven Corona-Infektionsausbrüche in China erst einmal in weite Ferne gerückt ist. „Die Frage ist, ob man es tatsächlich postpandemisch nennen kann, wenn ein so bedeutender Teil der Welt gerade in seine zweite Welle eintritt“, sagte die niederländische Virologin Marion Koopmans der Nachrichtenagentur Reuters. Die Volks­re­pu­blik sei derzeit wie ein Joker: Niemand könne einschätzen, welche Überraschung die Durchseuchung von 1,4 Milliarden Menschen bereithalten werde. Im schlimmsten Fall, davon ist auszugehen, werden in China nach der Omikron-Welle über 1 Million Tote zu beklagen sein.

Absurde Vorgaben und falsche Botschaften

Die Regierung scheint das nicht zu interessieren. Denn just, als die Coronazahlen explodierten, änderten die Behörden die Kriterien, wann jemand einem „Covidtod“ erlegen ist: Der verantwortliche Arzt muss eindeutig belegen, dass das Virus den Tod ausgelöst hat, damit ein Opfer in den Statistiken auftaucht. Deshalb kommt es zu geradezu absurden Zahlen, die jedoch allabendlich stur in den Fernsehnachrichten verlesen werden: Am Mittwoch vermeldete die nationale Gesundheitskommission offiziell nur etwas mehr als 3.000 Infektionen und keine weiteren Coronatoten.

Die Regierungsstatistiken sind nicht nur eine Farce, sondern gesundheitspolitisch höchst unverantwortlich: Sie vermitteln die Botschaft, das Virus sei harmlos.

Doch viele tragische Schicksale mahnen, dass das Coronavirus eben doch keine gewöhnliche Erkältung ist. Auch das von Chu Lanlan. Die Opernsängerin ist mit 40 Jahren an den Folgen ihrer Infektion verstorben. „Wir müssen von der harten Realität erzogen werden“, kommentiert ein trauernder Nutzer in den sozialen Medien.

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