„Mit hohem Investment ins Humankapital“

Der Choreograf Christoph Winkler bringt ein „performatives Mixtape“ über den Pop­theoretiker Mark Fisher heraus. Ein Gespräch über Theorie und Praxis, Leben und Arbeiten

Der Wunsch, etwas zu bewegen, beschäftigt den Cho­reografen Christoph Winkler in mehrfacher Hinsicht Foto: Cayo Vieira

Interview Astrid Kaminski

taz: Es gibt viele Gründe, sich mit dem Kult-Kulturkritiker Mark Fisher zu beschäftigen. Was sind Ihre?

Christoph Winkler: Mal abgesehen davon, dass ich ihn schon immer sehr geschätzt habe – ich bin ja auch ein bisschen Musik-Aficionado und hab da so meine Geschichte.

Klangkrieg“?

Ja, das war Mitte der 1990er. Da habe ich das Label „Klangkrieg“ und eine Konzertreihe kuratiert. In etwa zeitgleich mit CTM. Diese Zeit, in der man Spex gelesen hat und Diedrich Diederichsen, Mixtape, Texte zur Kunst und Derrida, in der das alles zusammenkam. „Mille Plateaux“ hieß ein Label, also nach Deleuze, der Diskurs hatte in der Popkultur einen unglaublichen Stellenwert! (Es folgt eine beeindruckende Aufzählung.) Mark Fisher war ein wichtiges kritisches Pendant dazu. Ich habe jetzt nicht jeden Blogeintrag gelesen und so. Nur als dann die Nachricht kam, dachte ich: Hm, is ja blöd.

Die Nachricht von dem ­Suizid.

Hatte ich nicht erwartet. Hat mich getroffen. Ich wollte wissen, warum. Ich meine, natürlich weiß ich, warum: weil er Depressionen hatte. Aber das reichte mir nicht. Es gab viele Leute, die das auch beschäftigt hat. Das ganze Ding fing an: Leute, die über ihn schrieben, wie wichtig er war. Das Buch „Egress: On Mourning, Melancholy and the Fisher-Function“, Symposien bei CTM, die Frage, wie man die Trauer nutzbar machen kann, etc. Bei diesem Chor junger trauernder Männer, oft vor allem junger Männer, spürte ich dann irgendwann den Wunsch, mit Mark Fishers Witwe zu sprechen. Es dauerte, bis das niedergeschrieben war und ich sie gefragt habe. Sie hat zugesagt, unter der Bedingung, dass sie Kontrolle über das Material hat. Dann kam Corona.

Also kein Vor-Ort-Interview.

Nein, und auch kein Zoom. Das möchte ich nicht. Würde nicht passen. Wir haben umdisponiert. Das war wegen der Pandemie sowieso nötig. Es geht mir ja auch darum, möglichst viele von meinen Leuten zu bezahlen. Auch die, die wegen Covid-19 nicht nach Berlin kommen können. So kam die Idee, ein performatives „Mixtape“ zu machen. Wir haben uns dafür einzelne Konzepte aus Fishers Werk, wie zum Beispiel die Hauntology, Camp, Glamrock oder das Seltsame, angeschaut und aus verschiedenen Perspektiven – zum Beispiel der einer Sozialisierung in Burkina Faso – in Stimmungen übersetzt, in Musik, Videos, Bilder, spoken word, Tanz. So wie Fisher selbst Burial oder Jungle oder den Gesichtsausdruck seiner Studenten als Ausgangspunkt genommen hat, um daraus etwas zu entwickeln.

Wenn Sie Ihren Krebs, das Non-Hodgkin-Lymphom, oder den Umgang mit den Bindungsstörungen Ihrer inzwischen erwachsenen Pflegetochter öffentlich machen, verweist dies auf die Entscheidung, Krankheit im Sinn Fishers zu entprivatisieren, das heißt zu repolitisieren?

Es ist vielmehr so, dass ich diese The­ma­tiken nicht auslasse. Dass ich frage, was mich dabei mit anderen verbindet oder von ihnen unterscheidet. In Bezug auf meinen Umgang damit sowie auf meine Privilegien im Umgang damit. Ich mache das weniger, um therapeutisch damit ­umzugehen. Therapiearbeit mache ich auch, aber es ist nicht das, was mich als künstlerischer Prozess in erster Linie interessiert. Es ist die Frage: Wie kann man über etwas sprechen, was kann man tanzen? Dafür werde ich von der Gesellschaft schließlich bezahlt. Und das funktioniert mit den Stücken ganz gut. In „La Fille“ (über eine schwierige ­Vater-Tochter-Beziehung; d. Red.) sah ich viele weinende Eltern, Erzieherinnen und Pfleger. Andererseits wurde das Stück aber nicht zigmal gebucht. Es bleibt ein Fremdkörper. Es gibt Kuratorinnen, die sich nicht trauen, das zu bringen.

Ihr Auftrag ist es, Dinge zu thematisieren, nicht, sie ertragbar zu machen?

Den Wunsch, etwas zu bewegen, habe ich schon. Sonst wäre ich wohl nicht beim Tanz gelandet. Aber dazu müssen erst einmal Themen her. Es gibt vieles, was nicht thematisiert wird. Das Vergessenwerden des Komponisten Julius Eastman zum Beispiel, einschließlich der ganzen soziologischen Fragen, die damit zu tun haben. Solche Fragen verklingen meistens sehr schnell. Für das aktuelle „Mixtape“ haben wir zum Beispiel viel nach Texten zu Grenfell, vor und nach Grenfell, gesucht.

Das ist der Sozialbau, der 2017 in London abgebrannt ist.

Die Texte dazu sind für mich wie eine Bestandsaufnahme und Zustandsbeschreibungen postkapitalistischer Gesellschafts­erfahrungen.

Worunter auch die Pandemie fallen dürfte. Passt es, an dieser Stelle Mark Fisher zu zitieren? Er schreibt in „k-punk“ mit Bezug auf die Proteste gegen die Cameron-Regierung: „Die jüngste Zunahme an Militanz in Großbritannien, vor allem unter jungen Leuten, legt nahe, dass die Privatisierung von Stress an ihre Grenzen kommt: Anstatt der medizinisch behandelten, individuellen Depression sehen wir nun Ausbrüche öffentlichen Ärgers.“

Nun ja, bei Fisher ist es ja immer so, dass man irgendwas liest und sagt: Aha, so ist das! Mit einem Einzeiler kann der irgendwie total viel machen.

Christoph Winkler ist seit zwanzig Jahren ein wichtiger Choreograf in Berlin. Er trainierte Kampfsport und Streetdance, studierte Ballett, wirkt kumpelhaft, ist Girardist, Popkultur-Experte, Nerd, Entdecker von Tänzer*innen und Umverteiler. Zu seinen fast 90 Bühnenstücken zählen die Fallstudie zu Beate Zschäpe „RechtsRadikal“ (2013), „La Fille“ (2015) über eine schwierige Tochter-Vater-Beziehung, „Studies on Post­colonialism“ (2016), „The Julius Eastman Project“ (2018), eine Hommage an den in Vergessenheit „geratenen“ schwarzen postmodernen Komponisten, sowie „On HeLa“ (2019), ein tänzerisches Essay über Krebszellen. Seine jüngste Premiere „It’s all forgotten now – Performative Mixtape for Mark Fisher“ wird ab 23. November online auf der Seite des Theaterkritikportals Nachtkritik sowie der Sophiensæle ausgestrahlt. Der Zugang ist frei, um Spenden für die Initiative Dance Revolution East Africa (DREA), die mit Kindern des Stadtteils Nabulagala in Kampala, Uganda, Filmaufnahmen für „It’s All Forgotten Now“ beisteuerte, wird gebeten. Die Bücher von Mark Fisher „k-punk“, „Das Seltsame und das Gespenstige“ und „Gespenster meines Lebens“ sind in der Berliner Edition Tiamat erschienen.

Was treibt Sie?

Frage ich mich auch. Die Krankheit gibt mir nur noch eine begrenzte Zeit. Muss ich noch was Bestimmtes tun? Andererseits ist es auch ganz gut, wie es ist. Ich kann Projekte machen und die Gelder, die ich dafür bekomme, weiterverteilen, in Länder, in denen es keine gibt. Die Tänzer legen die Gelder zum Beispiel in Burkina Faso oder Kampala in choreografische Zentren an. Ich kann mit Leuten, die ich mag, etwas bewegen. Neoliberal würde man sagen: Lean Management mit hohem Investment ins ­Humankapital.

Das scheinbar Widersprüchliche an Mark Fisher war, dass er an die Zukunft glaubte. Er ging davon aus, dass es gute Geister im Denken der Moderne gibt. Man müsse sie allerdings befreien. Diese Fähigkeit verordnet er der politischen Linken. Gibt es konkrete ideengeschichtliche Themen, für die Sie sich einsetzen?

Ich denke, es geht um die Übung, komplexe Systeme zu knacken. Das geht vielleicht anhand des Versuchs, komplexe Themen zu fassen und auf die Bühne zu bringen. Ein Tanz, 65 Minuten zu HeLa-Zellen, das geht. Die andere Komponente, die mir immer wichtiger wurde: den westlichen Blick zu hinterfragen. Gleichzeitig bin ich aber auch gnadenloser Kulturpessimist. Butter bei de Fische: Brauchen wir denn die ganze Kunstproduktion? Ist das nicht alles viel zu viel? Reicht das noch über die eigene Blase hinaus? Will das jemand entschlüsseln?

Es folgt ein Exkurs über den Nouveau Roman, René Girard und den Vergleich von dessen mimetischer Theorie mit Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums. Winklers Ausführungen streifen, um es in zusammengefasster Form anzudeuten, die Aufhebung des Gesetzes der Mimesis bei der sexuellen Vereinigung, Paypal-Mitbegründer Peter Thiel und dessen Gründe der Investition in Facebook und enden mit der Erklärung, wie Begehren in Gewalt umschlägt.

Also eher No Future?

Ich bin nicht so wie die 68er, die gedacht haben: In vier Jahren kriegen wir das hin. Dinge dauern. Das sehen wir zum Beispiel, wenn wir uns damit beschäftigen, wie lange es brauchte, bis man nach dem Dreißigjährigen Krieg Frieden schließen konnte. Dieses ganze Prozedere, welche Kutsche zuerst vorfährt! Aber ich denke, der Wunsch, es besser zu machen, der war und ist immer da.