B-Note
: Das große Handicap

Warum Marozsáns Ausfall dem deutschen Team Chancen eröffnet

Fast allein haben zwei deutsche Fußballerinnen in den ersten Tagen dieser Weltmeisterschaft die Schlagzeilen über das deutsche Team bestimmt. Zum einen Giulia Gwinn, die als Schützin des einzigen Tores gegen China von den Boulevardzeitungen nicht zum Symbol für Durchsetzungsfähigkeit, sondern zum Sexsymbol gekürt wurde, weshalb die Zahl ihrer Instagram-Follower um 15.000 Abonnenten anwuchs. Zum anderen Dzsenifer Marozsán. Sie monopolisiert die wenigen sportlichen Debatten derart, dass man glauben könnte, sie wäre die einzige im Team, die kicken kann.

Gewiss, seit Jahren ist sie die beste Fußballerin im deutschen Team, seit Jahren beim weltbesten Verein Olympique Lyon unter Vertrag und seit Jahren wird ihr die ganz große EM oder WM prophezeit. Mit entsprechendem Bangen wurde ihre Verletzung im Auftaktspiel begleitet, als ihr die Chinesin Wang Shanshan rüde auf den Fuß trat. Das nationale Rätselraten begann – wie einst bei Michael Ballacks Wade. Mit den Halbmeldungen über die bläuliche Farbe und Schwellungsgrade ihres Fußes, leichtes Training, Einzeltraining, gar kein Training hätte man in den letzten Tagen problemlos einen Liveticker bestücken können. Am Dienstagmorgen verkündete der DFB die Lösung des großen Rätsels: Dzsenifer Marozsán fällt für die kommenden Vorrundenspiele gegen Spanien und Südafrika wegen eines Zehenbruchs aus.

Die Konzentration auf die Marozsán-Frage weist auf ein strukturelles Problem im deutschen Nationalteam hin. Auch wenn Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg seit Wochen ihr Streben nach absoluter Variabilität kundtut, gern von Plänen A, B, C, D, E und F spricht, scheint auch ihre Fantasie mit Marozsáns Ausfall zum Erliegen zu kommen. Vor der Weltmeisterschaft erklärte sie zu ihrer 27-jährigen Spielmacherin: „Ich bete jeden Tag: Lieber Gott, lass diese gute Form noch ein paar Wochen anhalten.“

Bereits bei der WM 2015 in Kanada konnte sich die damalige Trainerin Silvia Neid das deutsche Team nicht ohne Marozsán vorstellen. Sie spielte, obwohl sie sich in der Vorbereitung am Sprunggelenk verletzte. Entsprechend mau waren ihre Leistungen – und nach dem Turnier fiel sie umso länger aus.

Seltsam auch, dass Marozsán am Samstag die Partie bis zum Schluss durchstehen musste, obwohl sich der folgenschwere Crash bereits in der 12. Minute zutrug. Dem Heilungsprozess kann dies nicht zuträglich gewesen sein.

Am Mittwoch wird Voss-Tecklenburg einen ihrer vielen Alternativpläne gegen Spanien umsetzen müssen. Für das Selbstbewusstsein des deutschen Teams wäre es hilfreich gewesen, wenn die Trainerin schon vor dem Abpfiff gegen China dem Team das Vertrauen gegeben hätte, sie könnten das auch ohne eine angeschlagene Marozsán schaffen. Und der mit so viel Erwartungen Beladenen hätte es letztlich auch Erleichterung verschafft.

Bei der EM vor zwei Jahren war Marozsán ganz offensichtlich dem großen Druck nicht gewachsen. Mit Blick auf die Vergangenheit wäre es kein gutes Zeichen, wenn man sich bis zum Achtelfinale durchlaviert, um dann wieder alles auf die vermutlich noch gehandicapte Nr. 10 zu setzen. Johannes Kopp