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: Da sind noch viele

Dass die Journalistin Meşale Tolu überraschend die Türkei verlassen darf, ist ein neuer Versuch von Erdoğan, sich Deutschland zum Freund zu machen. Das ist eine Chance

Meşale Tolu im April 2018 in Istanbul: Am 18. Dezember wurde sie nach knapp acht Monaten aus der türkischen Haft entlassen, musste aber zunächst in der Türkei bleiben Foto: Linda Say/dpa

Von Wolf Wittenfeld

So schnell kann es also gehen. Wie durch ein Wunder kommen die unterschiedlichsten türkischen Gerichte zu der Erkenntnis, dass entweder die U-Haft oder eine Ausreisesperre für bestimmte politische Gefangene nicht mehr nötig ist. Dabei gibt es nur eins, was die in Edirne festgehaltenen griechischen Soldaten, den Amnesty Sektionschef der Türkei, Taner Kılıç, und die deutsche Journalistin Meşale Tolu verbindet: Zwei europäische Länder – in diesem Fall Griechenland und Deutschland – haben ein großes Interesse daran, dass diese Menschen freigelassen werden beziehungsweise die Türkei verlassen dürfen.

Man liegt deshalb wohl nicht ganz falsch mit der Annahme, dass die plötzlichen Einsichten der unabhängigen türkischen Justiz etwas damit zu tun haben, dass der große Führer des Landes sich angesichts des Streits mit dem anderen großen Führer jenseits des Atlantiks genötigt sieht, in Europa wieder gut Wetter zu machen.

Hieß es noch vor wenigen Wochen, Deutschland sei ein Land voll von Rassisten, Islamophoben und ein sicherer Hafen für die Putschisten der Gülen-Sekte, preisen die regierungsnahen türkischen Zeitungen plötzlich die Weisheit von Kanzlerin Merkel. Vor gut einer Woche hatte sie mit Blick auf den Verfall der türkischen Lira gesagt, die deutsche Regierung habe ein großes Interesse an einer prosperierenden Türkei. Dabei war am letzten Freitag, als Meşale Tolu nach Angaben ihres Freundeskreises vom Gericht mitgeteilt bekommen hat, dass ihre Ausreisesperre aufgehoben wird, noch gar nicht bekannt, dass sich auch noch die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles dazu bekennen würde, notfalls sogar Geld in die Hand zu nehmen, um die Türkei zu retten.

Wo Donald Trump gerade ankündigt, man werde die „falschen Freunde“ in der Türkei nun endgültig fertig machen, hören Erdoğan und seine Fans das natürlich gern. Also warum jetzt nicht die Gunst der Stunde nutzen und wirklich eine „Operation Big Raushole“ starten?

Die Grünen und einige CDUler fordern nun, man dürfe erst über Hilfen für die Türkei nachdenken, wenn Erdoğan bereit ist, auf den Pfad der Demokratie zurückzukehren. Das ist zwar eine schöne Parole, aber was heißt das?

Allahu Akbar wird sagen, er sei doch demokratisch gewählt und die Abschaffung der Gewaltenteilung sei durch ein Verfassungsreferendum legitimiert worden. Außerdem ist der Umbau der Türkei in einen Autokratenstaat bereits soweit fortgeschritten, dass es, selbst wenn jetzt die Opposition an die Regierung käme, schwer wäre, den Schalter wieder umzulegen.

Deshalb sollte man lieber die Gelegenheit nutzen und konkrete, direkt umsetzbare Forderungen mit einer wie auch immer gearteten ökonomischen Unterstützung der Türkei verknüpfen. Warum sollte die unabhängige türkische Justiz nicht auch in den Fällen sieben weiterer Deutscher, die derzeit aus politischen Gründen festgehalten werden, zu der Erkenntnis kommen, dass diese Leute freigelassen werden müssen und ausreisen können? Und warum nur deutsche politische Gefangene?

Was ist mit den türkischen Journalisten die aus politischen Gründen im Knast sitzen?

Was ist mit Enis Berberoğlu, dem CHP-Abgeordneten dem vorgeworfen wird, dem Journalist Can Dündar das Material über die Waffenlieferungen des türkischen Nachrichtendienst MIT an die Islamisten in Syrien zugespielt zu haben?

Bevor Erdoğan nach Berlin kommt, sollte Merkel noch mehr Leute aus den türkischen Knästen holen

Was ist mit Osman Kavala, dem Friedensaktivisten und Mäzen für Minderheitenkulturen, der ebenfalls schon seit zehn Monaten im Knast sitzt?

Um nur einige zu nennen.

Bevor Erdoğan im September nach Berlin kommt, um Hilfe für seine marode Wirtschaft zu erbitten, sollten Merkel und Co deshalb unbedingt noch ein paar mehr Leute aus den tür­kischen Knästen holen. Sie sollten außerdem grundsätzlich klar machen, dass bei weiteren Geiselnahmen jede Unterstützung eingestellt wird. Das ganze natürlich nicht öffentlich und mit großem Geschrei, sondern geräuschlos auf dem Weg der stillen Diplomatie. Nie war die Gelegenheit besser als jetzt.

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