Rolle des Westens im Syrien-Krieg: Nicht dieses Foto ist schrecklich

Das Bild vom kleinen Omran, ausgebombt in Aleppo, geht um die Welt. Es hält uns den Spiegel unseres eigenen Nichtstuns vor.

Die Titelseiten von mehreren Zeitungen, darunter der Tagesspiegel, Die Welt und die Berliner Zeitung, mit dem Bild des Jungen von Aleppo

Viele Zeitungen, ein Titelbild Foto: reuters

BERLIN taz | Es gibt Fotos, die sich ins Weltgewissen eingraben. Das nackte Mädchen, das in Vietnam vor einem Napalmangriff der USA davonläuft. Das verhungernde Kleinkind im Südsudan, auf das schon der Aasgeier wartet. Der an einem türkischen Strand angespülte tote Flüchtlingsjunge Aylan. Jedes Mal wird ein Kind zum Symbol von etwas, was die Weltgemeinschaft überfordert. Man ist betroffen und hilflos – angesichts von Krieg, von Flüchtlingselend. Und jetzt ist es Syrien, der Bombenterror in Aleppo, der fünfjährige ­Omran Daqneesh.

Das Foto und das Video dazu stammen vom Aleppo-Medienzentrum, einem Netzwerk aus Bürgerjournalisten und Veteranen des zivilen Widerstands. Es ist Mittwochabend, 17. August. Draußen ist es stockdunkel. Aufregung herrscht auf der Straße. Ein kleiner Junge, blutend und staubbedeckt, wird von Helfern hastig in einen Krankenwagen gehoben und hingesetzt, nach ihm weitere Kinder.

Der Kameramann Mahmoud Raslan hat die Geschichte mittlerweile den Weltmedien erzählt. „Ich wohne 300 Meter entfernt. Kurz nach sieben Uhr abends, nach dem Abendgebet, hörten wir die Explosionen“, beginnt sein Bericht. „Ich rannte mit drei anderen hin. Als Erstes sah ich, wie drei Körper in einen Krankenwagen getragen wurden. Das waren die Nachbarn von Omrans Familie. Das Gebäude war völlig zerstört – alle sechs Etagen waren Geröll. Dann sah ich ein weiteres halb zerstörtes Haus, Omrans Haus.“ Helfer der „Weißhelme“, der freiwilligen Sanitäter in Aleppo, kletterten hinein. „Omran war der erste Überlebende, den sie aufhoben. Ich griff meine Kamera und begann zu filmen.“

Mustafa al-Sarout, einer der Aktivisten, berichtete: „Leute waren auf der Straße unterwegs, als die Bomben fielen, und sie rannten in die Häuser, um Schutz zu suchen, und waren dann eingeschlossen, als die Gebäude zusammenfielen.“ Wie durch ein Wunder wurde Omran nur leicht verletzt. Es gibt Bilder von ihm, später im Krankenhaus. Seine Eltern und seine drei Geschwister überlebten.

„Wahrer Repräsentant des syrischen Volkes“

Als einzelnes Ereignis ist das höchstens eine Fußnote in der Chronik des syrischen Horrors. Aber das Bild von Omran im Krankenwagen ging in Windeseile um die Welt. Tausendfach wurde es am Donnerstag auf sozialen Netzwerken geteilt, es „ging viral“, wie man so sagt. Ein syrischer Nothilfekoordinator setzte Omran in einer Fotomontage in einen Präsidentensessel und nannte den kleinen Jungen „den wahren Repräsentanten des syrischen Volkes“.

Eine CNN-Nachrichtensprecherin konnte ihre Tränen kaum zurückhalten, als sie ihren Text zu dem Bild aufsagte. Die New York Times schrieb, Omran habe „die Aufmerksamkeit einer Öffentlichkeit auf sich gezogen, die für syrisches Leid taub geworden ist“.

Taub war das öffentlich-rechtliche Deutschland. Die ARD-„Tagesschau“ am Donnerstagabend ignorierte Omran komplett. Die Tagesthemen brachten einen Ausschnitt des Videos, nicht ohne den Kommentar voranzuschicken, dass in Syrien eben auch Krieg mit Bildern geführt werde – eine zynische Vorwarnung, dass jetzt womöglich Propaganda folgt.

In diese Richtung argumentiert auch Russland, das wahrheitswidrig behauptet, seine Luftwaffe ziele in Syrien „nie“ auf bewohnte Gebiete und die Rebellen selbst hätten wohl Omrans Haus mit einer Mine in die Luft gejagt und würden jetzt eine Kampagne damit fahren. Als Beweis wird angeführt, dass das Video intakte Fenster im Nachbarhaus zeige. Die einzigen auf den Bildern zu erkennenden Fenster sind allerdings die des Krankenwagens, und in Aleppo fliegt nur eine Seite Luftangriffe: das syrische Assad-Regime und sein Bündnispartner, die russische Luftwaffe. Omran steht nicht einfach für das Leid von Kindern im Krieg. Er steht für ein Kriegsverbrechen, und die infrage kommenden Täter sind bekannt.

Man muss die Täter benennen

Das Bild starrt uns an, schrieb ein Twitter-Kommentator, und wir starren zurück. Gelähmt sind beide Seiten. Eigentlich müsste der kleine Junge doch leben und lachen; stattdessen blickt er blutverschmiert, eingestaubt und benommen in Richtung Kamera, als trage er die ganze Last des Horrors von Aleppo. Eigentlich müssten wir, die Beobachter, doch etwas für ihn tun, ihn umsorgen und heilen, ihm die Last nehmen. Stattdessen blicken wir entsetzt, verstört und fassungslos auf dieses Foto, wie in einen Spiegel unseres Umgangs mit Syrien.

Nicht dieses Foto ist schrecklich, sondern der Krieg in Syrien. Es nütze wenig, einfach das Leid der Opfer zu beklagen, ist der Tenor mancher syrischer Kommentare zu diesem Bild. Man müsse auch die Täter beim Namen nennen. Wieso schaut die Welt zu, während Russland und Syriens Regierung halb Aleppo in Schutt und Asche legen?

An diesem Wochenende jähren sich die Chemiewaffenangriffe auf oppositionelle Gebiete in der Ghouta-Ebene, den südlichen und östlichen Vorstädten von Damaskus am 21. August 2013. Sie hinterließen über 1.400 Tote, viele davon Kinder. Propagandisten zogen auch damals systematisch die Täterschaft des Regimes in Zweifel; die Weltgemeinschaft blieb untätig. Seitdem sind weitere Hunderttausende in Syrien getötet worden, das Nichtstun des Westens hat radikale Islamisten bestätigt und gestärkt und Russland ermutigt, selbst aufseiten Assads einzugreifen, in der Gewissheit kompletter Straflosigkeit.

Dieses instinktive Gefühl von Hilflosigkeit

Heute malen traumatisierte syrische Kinder in Flüchtlingsheimen Bilder von zerfetzten Leichen, über denen Bomben fallen. „Dieses Foto ist nicht das Schlimmste“, kommentierte die britische TV-Journalisten Nicole Tung gegenüber dem britischen Independent das Bild von Omran. „Ich habe Kinder ohne Köpfe, ohne Gliedmaßen gesehen. Es gibt einen Punkt, wo die Dinge so surreal werden, dass es kein Mensch mehr glaubt.“

Die Fotografin Emma Beales, oft in Aleppo tätig, schreibt, Omrans Bild allein könne nicht die Realität einfangen: „Dieses instinktive Gefühl von Hilflosigkeit und Terror, wenn man hört, wie über dir die Flugzeuge kreisen, und der zermalmende Einschlagslärm, wenn um dich herum die Fassbomben fallen. Man kann das Ausmaß des Leids in Syrien kaum begreifen, wenn man da ist und es sieht, also ist es unmöglich, es in den Medien angemessen darzustellen.“

Omran hat überlebt; andere Kinder nicht. Ihn sieht die Welt, nicht aber die Toten dieser Bombennacht. Die reale Welt hat versagt. Hilft die virtuelle? In der Ghouta-Ebene hat eben eine Aktion mit Pokémon-Go-Gestalten begonnen – den Fantasiekreaturen, die Millionen Jugendliche dieser Tage auf ihren Smart­phones in der realen Welt suchen gehen. Ghoutas Kinder haben diese ­virtuellen Wesen abgemalt und halten die Bilder in die Kamera mit dem Zusatz: „Ich existiere. Komm und rette mich.“

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