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Franziska Brantner über ihre Generation Den Karren aus dem Dreck ziehen

Die Grüne Franziska Brantner über die Generation der 40-Jährigen und Nora Bossongs neues Buch „Die Geschmeidigen“.

»Wir müssen den Karren aus dem Dreck ziehen«: Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner über die Aufgaben ihrer Generation picture-alliance /dpa

Von FRANZISKA BRANTNER

Die Schriftstellerin Nora Bossong argumentiert in ihrer Bestandsaufnahme unserer Generation, der zwischen 1975 und 1985 Geborenen: »Geschmeidig könnte der Schlüsselbegriff für unsere Generation sein, für jene zumindest, die sich in einer Zeit der Optimierung und der erschöpften Ideale nach oben gearbeitet haben.« Geschmeidig im Sinne von biegbar im negativen oder kompromissfähig im positiven Sinne. Das begründe sich darauf, dass unsere Generation relativ behütet aufgewachsen sei, Probleme wie Waldsterben als lösbar erlebt habe und der Pragmatismus der Merkel-Jahre sein Übriges dazugegeben habe.

Dieser im Buch Die Geschmeidigen beschriebene Eindruck trifft sicher nicht auf alle der Generation gleichermaßen zu, sondern ist je nach Elternhaus und geografischer Herkunft relativ. Außerdem ist eine biologische Altersklasse nicht identisch mit einer identitätsbasierten Generationenbeschreibung – nicht alle 68er waren bei der KPD oder Maoisten. Genauso wenig können wir über unsere Generation als einheitliche Alterskohorte sprechen, sondern nur über Erfahrungen und Prägungen, die einen relevanten Anteil der Alterskohorte und damit deren Haltung und Ausrichtung geprägt haben.

Bossong beschreibt weiter, dass sich unsere Generation nicht an Ideologien orientiere, die das vorherige Jahrhundert und Generationen vor uns geprägt haben. Das empfinde ich, die ich Jahrgang 1979 bin, von Nora Bossong (Jahrgang 1982) zutreffend beschrieben, als Glück und nicht als Nachteil. Aber stimmt es auch, dass unsere Generation keine inhaltliche Agenda, keine eigene positive Vision hat, für die sie kämpft? Also nicht nur keinen Ideologien folgt, sondern auch keine eigenen positiven Ideen hat? Sind wir die Party-Generation, die auf Selbstoptimierung setzt und das aufbraucht, was Generationen vor uns aufgebaut haben?

Mit Sicherheit sind wir die Generation, die den Karren aus dem Dreck ziehen muss. Die Generation, die die Bequemlichkeit und den Immobilismus der letzten Jahre ausbadet: Die eine Klimakrise erbt, weil die Generation vor uns trotz besseren Wissens nicht konsequent gehandelt hat. Die zu einem großen Teil die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen als existenzielle Herausforderung begreift und in ihrem Selbstverständnis als Kosmopoliten zugleich die Vorzüge der Globalisierung genießt. Die Generation, die aber auch den Scherbenhaufen des Just-in-time-Wirtschaftsmodells mit billiger russischer Energie, billigen chinesischen Importen und Exporten nach China aufräumen muss. Die Generation, die eine fast erdrückende Bürokratie, digitales Dinosauriertum, mangelnden Schutz des öffentlichen Raumes als kritische Infrastruktur in einen tüchtigen und agilen Staat wenden muss. Die Generation, für die Gleichberechtigung selbstverständlich ist, in der Frauen sich aber immer noch die Hälfte der Macht in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik erkämpfen müssen, erst recht, wenn sie Mütter sind. Die Generation, die die Gesellschaft zusammenführen und eine weitere Spaltung verhindern muss. Die Liste lässt sich fortsetzen. Es ist zugleich die Generation der Grünen, die als Jugendliche erlebten, wie die Grünen zum ersten Mal im Bund regierten, um Bundeskanzler Kohl endlich abzulösen. Die sich im Vergleich zu den Gründer-Müttern und -Vätern die Verbindung von Realismus und Substanz als Ziel auserkoren hat.

Ein neues Narrativ entwickeln

Die Herausforderung unserer Generation lässt sich mit dem Ausspruch Fausts beschreiben: »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.« Denn der seltener zitierte Satz »Was man nicht nützt, ist eine schwere Last«, bewahrheitet sich leider zu häufig – wenn die Mitgliedschaft in der EU als selbstverständlich hingenommen wird oder im »Westen« die Sicherheit, dass am Ende immer demokratische Kräfte gewinnen. Unsere Generation hat sich auf diese Aufgabe gut vorbereitet, seriös, wir haben das Handwerk dazu erlernt, auch wenn es nicht so »sexy« daherkommt wie ein Revoluzzerstudium. Dabei ist die Entwicklung positiver Fixsterne, das von Bossong geforderte »nach den Sternen greifen« nötig, um den Karren in einen neuen Pfad zu setzen. Ist uns dies schon gelungen? Haben wir unser Verständnis von Freiheit und Demokratie definiert, von Europa und Globalisierung, des Verhältnisses von Staat und Markt, der Rolle des Einzelnen im Verhältnis zur Gemeinschaft, von nachhaltigem Wohlstand?

Sicher nicht in allen Bereichen, aber doch in einigen.

Mit Blick auf die Europäische Union war für unsere Generation die EU verbunden mit Frust, Chaos und Krise. Wenn Europa jemals ein Elitenprojekt war, dann litt es in den letzten Jahren darunter, dass die Elite zu wenige überzeugte Europäerinnen und Europäer hat. Europäer, die die Perspektive der anderen mitdenken und im Zweifel auch für eine europäische Lösung sind, wenn diese nicht ganz ihrer Position entspricht oder kurzfristig nationale (wirtschaftliche) Kosten oder Zugeständnisse erfordert.

Wie Bossong beschreibt, riefen viele unserer Generation spätestens nach dem Brexit nach einem »neuen Narrativ«. Aber wir riefen nicht nur danach, sondern entwickelten es auch. Wir, das geht von Paul Ziemiak über Lars Klingbeil zu mir, argumentieren, dass jedes einzelne Land in dieser schwieriger werdenden geopolitischen Welt keine Chance auf Bestand hat, und deswegen unsere Souveränität nur europäisch gesichert werden kann. Emmanuel Macron als ein »Vertreter« unter vielen unserer Generation hat das von Frankreich aus forciert, während aus Deutschland ein Nein lange erhalten blieb. Wir haben mit einem wieder gewählten Präsidenten Macron die Chance, hier jetzt weiterzugehen und die strategische Souveränität Europas ernsthaft anzugehen. Hoffentlich hat meine Generation den Mut und die Überzeugungskraft, Europa handlungsfähiger und resilienter zu machen.

Eine Globalisierung, die den Menschen dient und nicht dem Kapital

Unsere Generation zeichnet sich inhaltlich dadurch aus, dass sie früh die Dysfunktionalität einer ungesteuerten Globalisierung aufzeigte und auf eine fairere Ausgestaltung drängte. Eine Globalisierung, die den Menschen dient und nicht dem Kapital und die den Planeten schützt. Dies durchzuhalten und umzusetzen in einer geopolitisch komplexeren, vernetzten Welt ist die eine Seite der Medaille – die andere, das Verhältnis von Markt und Staat bewusst neu zu justieren. Diese Aufgabe erledigen wir gerade en passant, indem der Staat regelmäßig Unternehmen rettet, unter anderem Milliarden in Batterie- und Halbleiterproduktionen steckt oder Reserven für die Energieversorgung anlegt. Verstärkt durch die Pandemie setzt sich in vielen Bereichen, in denen bis jetzt das Mantra galt »das kann der Markt regeln«, die Einsicht durch, dass der Markt allein das nur suboptimal für die Gesellschaft regelt.

Das aktuelle Verhältnis »wenn es gut läuft, machen es die Unternehmen allein (und verdienen daran), wenn die Krise kommt, ist der Staat dran (und die Gesellschaft zahlt)« werden wir nicht auf Dauer fortsetzen können. Deswegen müssen wir hier auch mit Blick auf Vorsorge, soziale Gerechtigkeit und Krisenhandeln eine neue Balance finden. Sicher kann dies nicht bedeuten, dass der Staat alles übernimmt, sondern auch der Markt vom Staat, sprich der Gesellschaft, so geregelt wird, dass er Krisen vorbeugt und einseitige Abhängigkeiten und soziale Spaltung verhindert.

NORA BOSSONG: Die Geschmeidigen. Meine Generation und der neue Ernst des Lebens

Ullstein 2022 – 240 Seiten, 19,99 Euro

Für den Krisenfall haben die USA, zum Beispiel, seit den 1930ern ein Kriegswirtschaftsrecht mit weitreichenden Kompetenzen für die Regulierung und Sicherstellung von Lieferketten – und dabei stehen die USA nun wirklich nicht unter Verdacht, eine Planwirtschaft zu sein. Einen Blick darauf sollte es wert sein, um nicht in jeder einzelnen Krise von Neuem ad hoc Krisenmechanismen entwerfen zu müssen. Auf der anderen Seite muss der so häufig propagierte und ebenso häufig nicht umgesetzte Bürokratieabbau mit Leben gefüllt werden: Wie bleiben Gesetze lesbar, kohärent und umsetzbar, ohne an inhaltlicher Substanz zu leiden? Wie können wir eine gewisse Risikofreude, Flexibilität und Innovationsfähigkeit staatlichen Handelns wieder befördern? Wir können den Denk- und Möglichkeitsraum auch hier wieder positiv erweitern: nicht ideologisch, aber ideell, nicht autoritär, aber liberal, nicht planwirtschaftlich, aber nachhaltig.

Gleichberechtigung ist für unsere Generation selbstverständlich. Wir fühlen uns emanzipiert. Der harte Kampf um Gleichberechtigung, um rechtliche Gleichstellung schien von der Generation vor uns ausgefochten zu sein. Wir hatten ja bereits eine weibliche Kanzlerin, wir sind hoch- und überqualifizierte Erwerbstätige. Und zugleich sehen wir uns immer noch mit institutionellen, kulturellen und finanziellen Hürden konfrontiert. Mit diskriminierenden Rahmenbedingungen, die an fehlender Teilhabe deutlich werden: Gender Pay Gap, kaum Frauen in Aufsichtsräten, kaum Gründerinnen, ein ansteigender Männeranteil im Bundestag, mehr Thomasse als Bürgermeisterinnen. Wir haben mitbekommen, wie die Vergewaltigung in der Ehe strafbar wurde, während zugleich jede Dritte von uns in ihrem Leben Opfer von physischer beziehungsweise sexualisierter Gewalt wird. Wir verbinden Familie und Beruf, aber die Sorgearbeit ist immer noch nicht fair geteilt und die deutsche Präsenzkultur bestärkt all jene ohne Sorgeverantwortung. Zahlreiche Unternehmerinnen, Politikerinnen und Intellektuelle sehen deswegen ihr Wirken im Kontext bestehender Diskriminierungen und ihren Einsatz für Gleichberechtigung als demokratische Verpflichtung.

Dass die Demokratie unter Beschuss ist und sie aktiv verteidigt werden muss, ist eine Trivialität. Diese Verteidigung auch zu erreichen jedoch die große Kunst. Es wird darauf ankommen, demokratisch, anständig und trotzdem spannend zu streiten und vor allem Streit und Widersprüche auszuhalten. Sodass über Streit weder Freundschaften zerbrechen noch anderen für eine andere Meinung die Fähigkeit zu denken abgesprochen wird. Dieses Brückenbauen ist auf jeden Fall bitter nötig, wenn es darum geht, aus unserer Demokratie eine Demokratie der Teilhabe der Vielen zu machen. Jetzt haben wir die Verpflichtung zu beweisen, ob wir wirklich diese von Nora Bossong attestierte Fähigkeit besitzen.

FRANZISKA BRANTNER ist direkt gewählte Bundestagsabgeordnete der Grünen für Heidelberg.