Wintereinbruch in der Ukraine: Angst vor dem Schnee

Experten warnen vor russischen Angriffen auf die ukrainische Energieinfrastruktur im Winter. In Odessa bereitet man sich auf den Notfall vor.

Eine winterliche Straße in Odessa im Dämmelicht ein einzelnes Auto fährt, das rote Rücklich leuchtet

Winter­einbruch im Krieg: In Odessa sind 2023 bereits drei Menschen erfroren Foto: Viacheslav Onyshchenko/SOPA Images/imago

ODESSA taz | Eigentlich hat der Raum im Keller Heizkörper, doch nahe der Wand steht etwas, das wie ein schwarzes Fass aussieht. „Das ist unser Ofen“, sagt Olena Slynchak. Die 45-Jährige leitet die Europäische Oberschule in Odessa. Sie hat sich an einem Samstag Zeit genommen, um zu zeigen, wie gut die Schule auf den Winter vorbereitet ist. Denn vor dem haben viele Menschen in der Ukrai­ne Angst.

Experten sowie die ukrainische Regierung gehen davon aus, dass die russische Armee in der kalten Jahreszeit wie im vergangenen Winter versuchen wird, die Energie­infrastruktur der Ukraine zu zerstören. Entsprechend versucht man sich vorzubereiten – auf der Ebene der Energieproduktion, des Stromnetzes und auch dort, wo es dunkel wird, wenn es keinen Strom aus dem Netz gibt.

In der letzten Novemberwoche sind die Temperaturen in der Ukraine landesweit unter den Gefrierpunkt gesunken. Ein schwerer Schneesturm hat weite Teile der Süd- und Zentralukraine mit einer Schneeschicht überzogen. Auf der Autobahn von Kyjiw nach Odessa steckten hunderte Fahrzeuge in Schneeverwehungen fest. Nach Angaben des Rathauses in Odessa sind bereits drei Menschen erfroren. In mehreren Regionen fiel vorüber­gehend der Strom aus. Der Winter hat begonnen und es gibt einen ersten Eindruck, wie herausfordernd er werden könnte.

An der Oberschule im Südteil der Stadt lernen 1.500 Schü­le­r:in­nen von der 5. bis zur 11. Klasse. 500 nehmen von zu Hause am Unterricht teil. Die anderen 1.000 lernen in zwei Schichten, sodass maximal 500 gleichzeitig anwesend sind. Denn das ist die Kapazität der Schutzräume im Untergeschoss, eines Neubaus, der erst vor fünf Jahren eröffnet wurde. Der Keller der Oberschule habe eine Doppelfunktion, sagt Slynchak. „Außerhalb der Unterrichtszeit können die Räume auch von den Menschen aus der Nachbarschaft genutzt werden – beispielsweise während eines Luft­alarms.“

Generatoren und Luftschutzbunker

Allein im Jahr 2023 gab es bereits 378-mal einen Luftalarm in der Stadt für insgesamt 420 Stunden. Das Untergeschoss ist aber nicht nur ein Luftschutzkeller, sondern auch ein sogenannter Punkt der Unbezwingbarkeit. Letztere wurden im Winter 2022/2023 überall im Land eingerichtet, damit Menschen sich aufwärmen, ihre Smartphones aufladen und eine warme Mahlzeit essen können. 360 gibt es davon in Odessa, neben den 762 Luftschutzbunkern.

In dem Schutzraum in der Oberschule gibt es reichlich Steckdosen und einen Generator, der anspringt, wenn mal der Netzstrom ausfällt. Auch eine Erste-Hilfe-Station ist eingerichtet, zwei Liegen stehen darin. „Falls mal jemand Kreislaufprobleme hat“, erklärt Schulleiterin Slynchak.

In einem anderen Raum ist eine Spielecke für kleine Kinder eingerichtet. Es gibt einen Vorrat an Trinkwasser und Brennholz für den Ofen. Die Vorbereitungen seien komplex, sagt der stellvertretende Bürgermeister Oleksandr Filatov. „Schon seit dem Frühling arbeiten wir daran.“ Für den Fall, dass man vom überregionalen Netz getrennt werde, benötigt man eine Energiequelle direkt in der Stadt.

Denn wenn es keinen Strom gibt, funktionieren auch die Wasserpumpen und damit die Heizung nicht mehr. Ein Riesenproblem in einer Stadt mit einer Million Einwohnern. Mit Unterstützung aus Japan habe man bisher einen gasbetriebenen Großgenerator aufgestellt, drei weitere sollen folgen, jeweils mit vier Megawatt Leistung. Damit sollen nicht nur die Wasserpumpen angetrieben werden, sondern auch insgesamt elf Großboiler, die warmes Wasser erzeugen.

„Alle öffentlichen Schulen, Krankenhäuser und sozialen Einrichtungen haben eigene Generatoren für den Strom.“ Für private, mehrgeschossige Häuser gebe es ein Förderprogramm für Generatoren. Auch mit der Hilfe von Partnerstädten habe man getan, was man konnte, sagt Filatov und zeigt eine Liste mit dem bestehenden Bedarf. Darauf hunderte weitere Generatoren, Boiler, Powerbanks, Heizstrahler und Kabel. „Aber der beste Schutz ist eine bessere Luftverteidigung.“

Ob die russische Angriffswelle schon begonnen hat, ist noch nicht klar. Allerdings gab es in der Nacht zum 27. November einen Angriff auf ein Heizkraftwerk des größten privaten Energieproduzenten DTEK. Welches Kraftwerk beschädigt wurde, wurde nicht mitgeteilt. Allerdings besitzt das Unternehmen mehrere in Frontnähe im Osten des Landes. Alle 13 DTEK-Kraftwerke, die mehr als sieben Millionen ukrainische Familien mit Strom versorgen, wurden Berichten zufolge seit Beginn des Krieges von russischen Angriffen getroffen.

Seit April seien acht der 13 repariert, zwei weitere werden noch repariert. Die Lage sei ohnehin angespannt, aber unter Kontrolle, wie Oleksandr Kharchenko erklärt. Er ist Direktor des Energy Industry Research Center, einer Kyjiwer Beratungsfirma. „50 Prozent unseres Netzes und 70 Prozent unserer Kohlestromproduktion sind zerstört, beschädigt oder in russischer Kontrolle.“

Angesichts dessen sei mehr getan worden als möglich, aber nicht so viel wie nötig. Der vergangene Winter war vergleichsweise mild. Aber ein Minusgrad mehr erhöhe den Bedarf im Land um 200 Megawatt. „Bei minus 8 bis minus 10 Grad könnte es ein ernsthaftes Defizit ­geben.“ Es gebe zwar die Möglichkeit, bei erhöhtem Bedarf Strom aus Polen, Rumänien oder der Slowakei zu importieren. Die Kapazität dafür sei aber beschränkt, auch finanziell. Besonders kritisch sei die Bedarfsspitze zwischen 17 und 21 Uhr.

„Entweder die Verbraucher schränken sich ein und stellen stromintensive Geräte wie Boiler und Waschmaschinen ab, oder Teile des Netzes müssen abgeschaltet werden.“ Dann erwarte er wie schon im vergangenen Winter sogenannte rollende Abschaltungen von zwei bis drei Stunden täglich nach einem bekannten Zeitplan. „Das ist nicht die Apokalypse“, sagt der Energieexperte.

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