Skispringen: Da fliegt das Moppel-Ich

Die Weitenjäger bewegen sich nicht mehr wie früher im Grenzbereich zur Magersucht. Nichtsdestotrotz wird auch heute um jedes Gramm gekämpft.

Jedes Gramm zählt: Anders Bardal vor dem Absprung. Bild: dpa

Wir kennen dieses Bild, das Bild von sehr dünnen jungen Männern, die auf V-förmig ausgestellten Skiern ins Tal hinuntergetragen werden. Leicht müssen sie sein, so leicht wie möglich. Das dachten wir früher einmal. Doch mittlerweile hat sich ihr Gewicht im Durchschnitt erheblich erhöht. Die Formel "Je leichter, desto weiter" gilt nicht mehr.

Der Schweizer Weltklasse-Springer Simon Ammann nahm in den letzten Jahren 3,5 Kilogramm zu: "Also, für einen Skispringer ist das extrem viel. Die 3,5 Kilo zu kompensieren über Absprungkraft und verbesserte Technik ist auch für einen Simon Amann wirklich schwer", sagt Jens Weißflog, Olympiasieger für die DDR und die Bundesrepublik im Skispringen. Er ist einer der profiliertesten Experten, wenn es um die Entwicklung des Sports geht.

"Adler sind keine Fliegengewichte mehr", so betitelte die private Wirtschaftsuni EBS in Wiesbaden eine Studie - und bezieht sich auf eine vom Weltskiverband Fis angestoßene Entwicklung der letzten Jahre, die darauf abzielte, Springer vor der Magersucht zu bewahren. Denn damals, in den frühen 2000er Jahren, gaben manche Springer ein mitunter bedenkliches Bild ab, wie Verena Jung von der EBS erklärt: "Damals wurde festgestellt, dass ein Teil der Springer an der Grenze zur Magersucht war. Und da gab es immer wieder Diskussionen, dass man dem entgegenwirkt."

Österreichische Flugshow: Nach dem Dreifachsieg von Oberstdorf zum Auftakt der 60. Vierschanzentournee haben die fliegenden Ösis am Sonntag in Garmisch-Partenkirchen die ersten beiden Plätze belegt: Gregor Schlierenzauer vor Andreas Kofler. Dritter wurde der Japaner Daiki Ito. Der Deutsche Severin Freund, nach dem ersten Durchgang noch auf Platz zwei, fiel nach dem zweiten Sprung auf Platz sieben zurück.

Eine Enttäuschung erlebte erneut Routinier Martin Schmitt, der mit 121 Metern wie zum Auftakt in Oberstdorf vorzeitig ausschied und damit wohl aus dem Team für die zweite Tournee-Hälfte fliegt. "Davon gehe ich aus", sagte Schmitt. In der Gesamtwertung belegen nur Österreicher die Stockerlplätze: Schlierenzauer vor Kofler und Thomas Morgenstern.

Man nahm dann den sogenannten Body-Mass-Index, kurz BMI genannt, als Referenzgröße. Der BMI wird errechnet über das Verhältnis von Körpergröße und Gewicht. Ab einem BMI-Wert von 18,5 spricht die Weltgesundheitsorganisation von Magersucht.

Rund ein Fünftel der Springer waren vor einigen Jahren im kritischen Bereich. Sven Hannawald, der vor zehn Jahren alle vier Wettbewerbe der Vierschanzentournee gewann, wog bei 1,84 Länge federleichte 64 Kilo. Sein BMI betrug 19. Wie das blühende Leben sah er dabei nicht aus. Ein BMI von 20 ist nun der Grenzwert, mit dem die Springer antreten dürfen. Wer den Wert unterbietet, wird aber nicht ausgeschlossen. Er muss mit kürzeren Skiern antreten.

Athleten statt Hungerhaken?

"Grundsätzlich führt ein längerer Ski zu einem größeren Auftrieb, was die Weite des Springers positiv beeinflusst. Dies war zumindest innerhalb der letzten zehn Jahre so", sagt Sascha Schmidt, der Studienleiter. 145 Prozent der Körperlänge darf der Ski im äußersten Fall lang sein, wenn die Voraussetzungen in Sachen BMI erfüllt sind. Auf den ersten Blick ergibt diese Regelung Sinn. Doch es gibt auch Kritiker.

Und zu denen zählt Jens Weißflog, die Skisprunglegende. "Es ging mit der Heraufsetzung des BMI einmal um den medialen Aspekt. Der Fokus der Medien war ja auf Fotos gerichtet, die einen Sven Hannawald in einer Position zeigten, wo er unvorteilhaft aussah, aber wenn man die Skispringer heute ansieht, dann hat sich ein bisserl was daran geändert."

Athleten statt Hungerhaken? Eines ist gewiss: Der Weltverband nahm seine Fürsorgepflicht gegenüber den Sportlern ernst. Doch es gibt noch einen anderen Aspekt: die Sicherheit an der Schanze. Mancher glaubt, dass ein athletischer Springer sicherer unterwegs sei, weil er die Kräfte, die auf ihn wirken, besser verarbeiten könne. Weißflog hält dies für unwahrscheinlich: Unsicherheit im Skispringen entsteht hauptsächlich durch äußere Bedingungen.

Die Springer haben sich zudem in Windeseile auf den kürzeren Ski eingestellt. Und sie tun unverändert große Sprünge. Denn es ist eben nicht alles eine Sache des Gewichts, sondern auch der Technik. Ein neuer Typ von Bindung, die es den Athleten erlaubt, den Oberkörper näher an den Ski heranzubringen, kompensiert den Nachteil des Gewichts. Da wird das Spiel von Neuem eröffnet, wie Schmidt erläutert. "Mit dieser neuen Bindung braucht man nicht unbedingt längere Ski, um höheren Auftrieb zu bekommen, und deshalb ist die Sanktion dadurch wesentlich eingeschränkter."

Den letzten Zentimeter Ski herausholen

Auch Weißflog bestätigt den Effekt der Bindung auf die Weite: "Durch eine Materialweiterentwicklung der Bindung und damit der effektiveren Auflagefläche der Ski in der Luft hat man die Sanktion der Skiverkürzung ad absurdum geführt hat." Sascha Schmidt spricht von einem dynamischen Prozess: Die Suche nach dem Fortschritt, nach dem perfekten Sprung, halte unvermindert an.

Das weckt Erinnerungen. An einen anderen Technikzirkus: an die Formel 1. Auch dort geht es um Kraft, um Leistung und um den Einfluss des Gewichts: Was das Technische betrifft, so versucht natürlich jeder, genau wie bei der Formel 1, alles genau auszuloten. Man will auch den letzten Zentimeter Ski, das letzte Gramm herausholen, um einen Leistungsgewinn zu erreichen.

Weißflog macht sich überhaupt keine Illusionen: BMI hin, Bindung her: Eines, sagt der Sachse, sei sicher: "Skispringer werden auch zukünftig so leicht wie möglich sein."

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