Serie „Wie es sein könnte“ (2): Bitte nicht anfassen!
Blicke, Barrieren, vorschnelle Schlüsse: Auf manches könnten Menschen mit Behinderung gut verzichten. Ungefragt berührt zu werden etwa.
Am Bahnsteig. Ich steuere nicht sofort auf die U-Bahn-Tür zu, sondern erlausche, ob rechts oder links der nächste Eingang ist. Diese Geduld hat ein Mitbürger nicht. Er greift grob nach meinem Arm, zerrt mich nach rechts. Ich erschrecke mich, zieh den Arm weg.
Ich gehe zügig auf eine Treppe zu. Der weiße Stock pendelt vor mir. Ich gehe diesen Weg täglich. Dennoch fasst mir ein Senior beherzt an die Schulter. Er hat wohl Angst, ich könnte hinunterstürzen. Dabei macht sein Eingreifen die Situation erst gefährlich. Ich bin im Fluss, im Gleichgewicht.
Menschen mit Behinderungen fordern immer wieder: „Nichts über uns ohne uns!“ Jedoch sind sie in den Redaktionsräumen des Landes kaum vertreten. Zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2016 präsentiert sich die taz am Vortag als Ergebnis einer „freundlichen Übernahme“.
Darin erzählen Autor_innen von sich. Davon, dass sie nicht „an den Rollstuhl gefesselt sind“ oder „an ihrem schweren Schicksal leiden“. Davon, wie es ihnen im Alltag und im Beruf ergeht. Koordiniert wird die Übernahme von Leidmedien.de. taz.mit behinderung – am Kiosk, eKiosk und natürlich online auf taz.de.
Werde ich ohne Vorwarnung herausgerissen, steigt die Gefahr zu stolpern. Sehen diese vermeintlichen Helferinnen und Helfer denn ständig blinde Menschen Treppen runterpurzeln, auf stark befahrenen Hauptstraßen herumirren oder unter U-Bahn-Wagen geraten? Sagt ihnen ihre Intuition nicht, dass man niemanden ungefragt berührt?
Dabei ist es freundlich, wenn mir Hilfe angeboten wird. Wenn ich sie benötige, ist die Berührung okay. Aber allen, die an blinden Menschen herumzerren, zupfen, sie tätscheln, ihnen eine körperliche Nähe aufdrängen, die sie nicht wollen, rufe ich zu: „Fasst uns nicht an!“
Heiko Kunert, Jahrgang 1976, ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins in Hamburg