Neuer Roman von Wolf Haas: Das letzte Zuhause

In seinem neuen Roman „Eigentum“ schreibt Wolf Haas gegen das Vergessen an. Er erzählt von der Tragik eines arbeitsreichen Mutterlebens.

Eine Kerze in einem Zimmer im Altersheim

In einem Zimmer im Altersheim Foto: Jungeblodt

Wenn er nicht auch noch eine Poetik-Vorlesung halten müsste! Seine Mutter liegt in den letzten Zügen, im Altersheim des Ortes, in dem er selbst aufgewachsen ist, und der Erzähler, der wohl in groben Zügen identisch ist mit dem Autor Wolf Haas oder ihm jedenfalls einigermaßen ähnelt, hat die Befürchtung, dass mit dem Ableben der 95-Jährigen ihre Erinnerungen sein Hirn übernehmen könnten.

Es gilt daher, diese Erinnerungen schnell aufzuschreiben, möglichst solange die Mutter noch lebt. Gleichzeitig aber steht eben die Anforderung im Raum, diese Poetik-Vorlesung vorzubereiten. Es fällt ihm ein, dass deren Titel lauten könnte „Kann man vom Leben schreiben?“

Und während er darüber hinaus nur einige sinnlose Punkte notiert und nicht in der Lage scheint, strukturierte Gedanken zur akademischen Lehre zu fassen, entsteht gleichzeitig wie von selbst eine angewandte Poetik. Indem er vom Leben der Mutter schreibt, versucht er sich an einer Antwort auf die selbst gestellte Frage.

Das wäre, kurz zusammengefasst, das Rahmensujet dieses Romans, der sehr viel komischer ist, als diese trockene Analyse und vor allem sein Thema vermuten ließen. Man kann der Trauer, zeigt sich, unter Umständen mit angewandter Poetologie beikommen, indem man vom Leben das abschreibt, was sich zu Literatur machen lässt. Und das gewinnt, wenn es präzise genug geformt wird, oft eine Qualität von schöner Absurdität oder auch von Tragikomik.

Wolf Haas: „Eigentum“. Hanser, München 2023. 160 Seiten, 22 Euro

Nicht das Sterben der Mutter ist der eigentliche Gegenstand dieses Romans, und daher ist er nicht grundsätzlich traurig. Er geht zwar von ihrem (zuerst zu erwartenden, dann eingetretenen) Tod aus, handelt aber ganz im Gegenteil von ihrem Leben, das teils vom Erzähler selbst kommentiert, teils von ihm in Ich-Form aus Mutterperspektive gebracht wird.

Lebenslang vergebliches Streben

Die Darstellung folgt einer einigermaßen linearen Chronologie, ungefähr so: eine harte, arbeitsreiche Kindheit und Jugend in den Bergen, die verpasste Chance auf eine Berufsausbildung wegen Kriegsausbruchs, acht in der Schweiz verbrachte Nachkriegsjahre, in denen die junge Frau das als Serviererin verdiente Geld den Eltern für den Bau eines Hauses schickt, das irgendwann der Bruder erbt.

Der Schwester, inzwischen schwanger, bleibt nach ihrer Rückkehr für sich und ihre Familie nur eine winzige Einliegerwohnung in jenem Haus. Diese Familie sind zwei Söhne und ein Ehemann, der nur als Randnotiz im Roman auftaucht.

Es gehört zur Tragik des Mutterlebens, dass ihr lebenslang vergebliches Streben nach eigenem Wohneigentum erst erfüllt wird, als sie tot ist. „Unser Grab“ nennt der Erzähler die Begräbnisstätte in der Mitte des Friedhofs, in der bereits sein Vater liegt und in der auch Vater und Bruder der Mutter einst begraben wurden.

Dort gibt es nun 1,7 Quadratmeter, wie er ausrechnet, ganz allein für die Mutter, ein Eigentum, in das sie einziehen und das ihr niemand streitig machen kann. „Ich war nicht traurig, dass sie gestorben war. Im Gegenteil, ich konnte zum ersten Mal in meinem Leben glauben, dass es ihr gut ging.“

Die Mutter muss eine begnadete Erzählerin gewesen sein, wenn sie es geschafft hat, das Hirn des Sohnes so mit ihren Erinnerungen zu besetzen, dass er in der Lage ist, sie in ihrem eigenen Tonfall nachzuerzählen – oder ihr „zurückzuerzählen“, wie er einmal formuliert –, komplett mit den darin enthaltenen Redundanzen, die auch viele musikalische Qualitäten tragen.

Sparen, sparen, sparen

Rhythmus gehört dazu, das Prinzip der Wiederholung ist grundlegend (das gilt für alle Textebenen), ebenso wie das wichtige Prinzip der semantischen Verstärkung durch die dreifache Bekräftigung einfacher Phrasen, auch in Variation. Arbeiten, arbeiten, arbeiten, und sparen, sparen, sparen sind die grundlegenden Mantren, die sich durch dieses Leben ziehen: „Die drei Phasen des Bausparvertrages (Sparphase, Zuteilungsphase, Darlehensphase) hielt ich für einen Kinderreim.“

Was das Verhältnis der Literatur zur Realität, der Dichtung zur Wahrheit, betrifft, so pflockt der Autor gleich in der Eingangsszene des Romans einen wichtigen Zaunpfahl ein, der das Prinzip der fantasievollen ­Ausschmückung repräsentiert. Die Mutter, auch das ist ja eigentlich poetisch, bittet den Sohn, ihre Eltern anzurufen, um ihnen zu sagen, dass es ihr gut gehe.

Der Sohn sinnt im Folgenden anhaltend darüber nach, was er antworten solle, und kommt zu dem Schluss, dass es angemessen sei, zu behaupten, er habe mit ihren Eltern gesprochen, sie ließen grüßen und es gehe ihnen gut. Als er die Mutter das nächste Mal besucht, sagt er genau dies, kann sich aber nicht verkneifen, hinzuzufügen: „Nur dein Vater hat einen Schnupfen“, obwohl er sich vorgenommen hatte, das nicht zu tun. Aber: „Ich war ein unbeherrschter Mensch. Diese schlechte Eigenschaft hatte ich von ihr.“

Changierend zwischen Dur und Moll

Wir können wohl voraussetzen, dass es dieselbe Eigenschaft ist, die diesen Roman als Ganzes geformt hat. Es ist alles sehr sinn- und bezugsreich komponiert, ausnehmend lakonisch im Tonfall, macht Spaß zu lesen und ist dabei traurig in Maßen, eben genau so changierend zwischen Dur und Moll, wie ein integrierter musiktheoretischer Exkurs es nahelegt.

Ein kleines Unbehagen nur bleibt: Da es sich bei der Mutter des Erzählers um eine Frau handelte, die es, wie er schreibt, gehasst habe, auch nur fotografiert zu werden, ist es doch eher fraglich, ob sie begeistert wäre, sich nun ungefragt posthum in diesem Roman verewigt zu wissen.

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