Milei krempelt Argentinien um: Mega-Gesetz nimmt erste Hürde

Geringere Sondervollmachten für den Präsidenten und nur 386 Artikel: Das Parlament billigte am Freitag das etwas zurechtgestutzte Gesetzespaket der Regierung.

„Verabschiedet das Gesetz NICHT!“, steht auf zahlreichen Schildern im Unterhaus am dritten Tag einer Debatte über ein Gesetzespaket der neuen ultraliberalen Regierung von Präsident Milei

„Verabschiedet das Gesetz NICHT!“: Die Opposition in Argentiniens Parlament steht Mileis Gesetzespaket ebenso ablehnend gegenüber, wie die vielen Demonstrierenden auf den Straßen Foto: Natacha Pisarenko/dpa

BUENOS AIRES taz | In Argentinien hat das Mega-Gesetzespaket des libertären Präsidenten Javier Milei die erste parlamentarische Hürde genommen. Am Freitag stimmte das Abgeordnetenhaus mehrheitlich dafür. 144 rechtsliberale, konservative, gemäßigte und libertäre Abgeordnete votierten für das Paket, während 109 vor allem peronistische und linke Abgeordneten es ablehnten. Vier enthielten sich. Was noch aussteht, ist die Einzelabstimmung über jeden Artikel, die nächste Woche beginnt.

Es war ein teils hitziger, teils verwirrender Debattenmarathon, der am Mittwochmittag begann und am späten Freitagnachmittag in der Abstimmung über das Gesamtpaket gipfelte. Verwirrend nicht nur wegen des enormen Umfangs des Gesetzespakets, sondern vor allem wegen der ständigen Änderungen, die während der laufenden Sitzung hinter den Kulissen ausgehandelt wurden. Zum Zeitpunkt der Abstimmung wussten die wenigsten Abgeordneten, wie viele und welche Artikel überhaupt im Paket verblieben waren und welche nicht.

Am 27. Dezember hatte Milei dem Kongress das Mega-Gesetzespaket vorgelegt. Es enthielt 664 Artikel und sah neben umfangreichen Privatisierungs-, Wirtschafts-, Wahl-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen auch eine weitreichende Umstrukturierung der staatlichen Verwaltung vor. Und das Gesetz sollte es dem Präsidenten ermöglichen, bis zum Ende seiner vierjährigen Amtszeit mit Sondervollmachten zu regieren.

Bei der Abstimmung war das „Gesetz über Grundlagen und Ausgangspunkte für die Freiheit der Argentinier“ – so der offizielle Name – auf 386 Artikel geschrumpft. Ob diese Zahl die letztlich gültige ist, bleibt abzuwarten. Was noch aussteht, ist das Votum der Abgeordneten über jeden einzelnen Artikel, die kommenden Dienstag beginnt. Erwartet werden zahlreiche Änderungen. Einmal verabschiedet, muss das Mega-Gesetzespaket dem Senat zur Billigung vorgelegt werden.

An allen drei Tagen protestierten linke Gruppen und Parteien auf dem Platz vor dem Kongressgebäude, das mit einem Ring aus Uniformierten und aufgestellten Gittern geschützt wurde. Es galt das von Sicherheitsministerin Patricia Bullrich aufgestellte „Sicherheitsprotokoll für Demonstrationen“. Sobald die Demonstrierenden versuchten, auf die Straßen zu gehen, kam es zum Teil zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die versuchte, die Straßen für den Verkehr freizuhalten.

Am Donnerstagabend eskalierte die Situation, als ein massives Polizeiaufgebot die Protestierenden mit Schlagstöcken, Gummigeschossen und Pfefferspray zurückdrängte. Bei dem unverhältnismäßigen Vorgehen der Sicherheitskräfte wurden zahlreiche Personen durch Gummigeschosse verletzt, darunter mindestens ein Dutzend Journalist*innen.

Ein parlamentarisch schwacher Präsident

Mileis Partei La Libertad Avanza stellt nur 38 der 257 Abgeordneten. Als parlamentarisch schwacher Präsident ist er zu Kompromissen gezwungen, wenn er überhaupt etwas durchsetzen will. Aus rein parteipolitischer Sicht könnten ihm die Abgeordneten nicht nur die Gefolgschaft verweigern, sondern sich auch auf etwas ganz anderes einigen. Die Streichung von mehr als einem Drittel der Artikel zeigt, dass der Präsident unbedingt eine Niederlage vermeiden wollte.

Dennoch überraschen die zurückgezogenen Inhalte. Allen voran der gesamte fiskalpolitische Teil, der als Herzstück des Pakets galt und mit dem Milei das Haushaltsdefizit auf die schwarze Null reduzieren wollte. Dass er dies in einem zweigleisigen Ansatz, mit einer Erhöhung der Exportsteuern und einer rigorosen Sparpolitik erreichen wollte, hat selbst seine marktradikale Anhängerschaft überrascht. „Eher hacke ich mir die Hand ab, als Steuern zu erhöhen“, hatte er noch im Wahlkampf versichert.

Was nicht gestrichen wurde, sind die massiven Einsparungen durch den Abbau des Staatsapparates und in der Kultur. Ein Erfolg erzielte Milei auch in Sachen Neuverschuldung. Er konnte durchsetzen, dass er sich bei der Aufnahme von Schulden in ausländischer Währung und nach ausländischem Recht nicht mehr an eine vom Kongress im Haushalt festgelegte Obergrenze halten muss.

Dagegen musste er bei den geforderten Sondervollmachten zurückrudern. Statt, dass der Kongress den sozialen und verteidigungspolitischen Notstand ausruft und ihm für die Dauer seiner vierjährigen Amtszeit Sondervollmachten einräumt, erklärte sich die Mehrheit der Abgeordneten lediglich dazu bereit, den Notstand in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Sicherheit, Energie, Verwaltung und Tarife auszurufen. Die für diese Bereiche bewilligten Sondervollmachten gelten für ein Jahr und können nur mit der Zustimmung des Kongresses um ein weiteres Jahr verlängern werden.

Auch die Verschärfung des Demonstrationsrechts, ein weiterer zentraler Punkt des Mega-Gesetzes, wurde gebilligt. So wurde beispielsweise die Strafe für eine nicht genehmigte Straßenblockade von einem auf drei Jahre und sechs Monate Gefängnis erhöht. Dagegen wurde die Liste der 41 staatlichen und mehrheitlich staatlichen Unternehmen, die die Regierung privatisieren will, auf 27 reduziert. Zu den gestrichenen Unternehmen gehören die Ölgesellschaft YPF und die Staatsbank Banco Nación.

Welch bunten Mix das Paket enthält, zeigt die Ehescheidung, die zukünftig erleichtert werden soll. Statt eines Scheidungsverfahrens, das nur über Anwälte abgewickelt werden kann, reicht nun eine gemeinsame Erklärung der Eheleute beim Standesamt aus, um die Ehe aufzulösen. Gut möglich, dass 2024 das Rekordjahr für Scheidungen in Argentinien sein wird. Viele Paare haben sich längst getrennt, sich aber wegen des kostspieligen Verfahrens noch nicht scheiden lassen.

Auch Tra­di­tio­na­lis­t*in­nen unter den Fußballfans können beruhigt sein. Der Artikel, der es den Vereinen ermöglichen sollte, sich in Aktiengesellschaften umzuwandeln und sich an ausländische Investoren zu verkaufen, wurde zurückgezogen. Vom Tisch sind die Gerüchte, der englische Erstligist FC Chelsea hätte schon vier, fünf große Clubs im Visier.

Der große Verlierer: Gletscherschutz

In der Debatte nahezu unerwähnt blieb das Thema Umwelt und Klima, das die Umweltschutzorganisationen in Alarmzustand versetzte. „Die vorgeschlagenen Reformen richten sich direkt gegen den Kern der argentinischen Umweltgesetzgebung, die für den Schutz wichtiger Ökosysteme in unserem Land wie Wälder, Gletscher und Feuchtgebiete steht“, sagte Diego Salas, Direktor von Greenpeace Andino. „Trotz einiger Änderungen am ursprünglichen Text sind die Umweltgesetze immer noch in Gefahr“, so Salas. Die Änderungen konnten immerhin 80 Prozent der bisher geschützten Wälder vor einer legalen Abholzung bewahren.

Das Ringen um den Schutz der Gletscher war weniger erfolgreich. „Die im neuen Gesetzesentwurf vorgeschlagenen Änderungen schränken das Schutzgebiet erheblich ein, schließen eine enorme Menge an Eiskörpern aus und ignorieren die ökosystemische Rolle von Gletschern und der periglazialen Umwelt“, schrieben Argentiniens wichtigste Glet­scher­ex­per­t*in­nen in einem offenen Brief an die Parlamentarier.

Während im Bereich des Waldschutzes das Lobbying der Landwirtschaft und der Immobilienwirtschaft bei der Erschließung neuer Agrar- und Bauflächen noch weitgehend zurückgewiesen werden konnte, droht beim Gletscherschutz also ein schwerer Rückschlag. Für den Bergbau war das Gletscherschutzgesetz immer nur ein Hindernis bei der Ausweitung seiner Minen und der großflächigen Ausbeutung von Erzen entlang der Anden.

Die Extraktionswirtschaft hat in dem marktliberalen Präsidenten Milei einen idealen Verbündeten, der statt von Klimawandel von historischen Temperaturzyklen spricht, für die die Menschheit nicht verantwortlich gemacht werden kann. Die Deviseneinnahmen Argentiniens stammen hauptsächlich aus dem Agrarexport und in geringerem Maße aus dem Export von Erzen und Metallen. Auf sie ist Milel angewiesen, um sein Wahlversprechen der Dollarisierung der Wirtschaft zu erfüllen.

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