Kolumne Jung & Dumm: Lange ist nicht mehr so viel passiert

Früher war mehr Lametta. Heute ist mehr Lamento. Über Augstein, Autobahn-Hühner und das überbordende Stoßgetweete.

Mandala mit Mönch

Wie der Kopf von Jakob Augstein: Ein Mandala, daneben ein Mönch Foto: ap

Jakob Augstein ist Journalist. Sein Kopf wirkt wie ein Mandala, aus Pressschaum sein Gesicht, eine einzige Knautschzone das alles. Wie viele gute Deutsche mag er Israel nicht und macht darauf und auf sich und ansonsten sowieso durch Äußerungen aufmerksam.

Bei Twitter zum Beispiel: „Es passiert zu viel gleichzeitig.“ Stünde da „Man passiert zu viel gleichzeitig“, könnte das glatt ein „Thermomix“-Werbespruch sein. Oder die Überschrift eines Textes über „Pokémon Go“: das junge, hippe, freshe Spiel der Stunde, das doch bereits ausgedeuteter ist als Kafka oder Hitlers Helfer (in der Küche z.B. Thermomix). Ich schreibe aber kein Buch über Kafka (keinen Text über „Pokémon Go“). Ginge gar nicht – es passiert zu viel (gleichzeitig).

Schlimm ist ja vor allem: Da muss erst Jakob Augstein kommen, damit man sich über so was bewusst wird. Sonst liefe man ganz und gar ahnungslos durch die Welt und würde sich nur an der Peripherie das Passierens aufhalten – damit, ob und wie lange, zum Beispiel, Wolfgang Bosbach auf den Gully, in den er beim Mallorca-Urlaub fiel, eingeredet haben muss oder ob er primär seiner Fresse wegen dort wieder rausgelangte; warum man in Sachsen lieber ein Autobahn-Huhn rettet als Geflüchtete; ob es in der deutschen Sprache einen schlimmeren Satz geben kann als „Volker Weidermann hat Juli Zeh in Brandenburg getroffen“.

Der Terror ist hier

Aber nein, Schlimmeres gibt es unterdessen genug. Lange ist nicht mehr so viel gleichzeitig passiert wie jetzt. Nizza, Türkei, Würzburg, München. Der Terror, er ist hier. Das Publikum: überfordert. Kaum noch einer kommt hinterher mit dem Trauerposten. Je suis passé – parlez-vous français? Innenminister de Maizière macht, so heißt es, schon erste Lösungsvorschläge: In Zukunft darf nur noch 70 % passieren (endlich eine sinnvolle Obergrenze). Zu lesen derweil die üblichen Meta-Schleifen: Wer darf, kann, soll wie, wann und warum trauern? Früher mehr Lametta – heute mehr Lamento?

Passiert nun in Deutschland, was in Europa und der Welt längst oder immer schon Alltag ist? Und dürfen dann zum Beispiel die Millionen Toten in den Ländern, aus denen die Rohstoffe für die Smartphones der Happening-Gesellschaft kommen, in den Hintergrund treten, in dem sie hierzulande auch immer standen? Wie austauschbar werden die Gegenstände der Berichterstattung, wenn an der Sendezeit kaum ein Unterschied erkennbar sein wird zwischen Fußball, Terror und Olympia?

Unschuldige Seelen

Wäre jener Terror der vergangenen zwei Wochen innerhalb von zwei Monaten passiert – es wäre nicht weniger schlimm.

„Es passiert zu viel gleich­zeitig“ heißt vor allem: Jakob Augstein weiß nicht, was er ­schreiben soll. Früher hätte man in derartigen Gemütslagen geschwiegen. Aber im Zuviel des medialen Heute lässt das die Aufmerksamkeitsökonomie nicht mehr zu.

Im Gegenteil: Noch viel zu viele unschuldige Seelen laufen da draußen (gleichzeitig) rum und schnuppern an Blumen, statt Augstein zu folgen. Denn in Zeiten wie diesen ist es wohl nur noch das „Hallo, hier bin ich“, das beherzte Stoßgetweet, das uns von dem Bösen zu erlösen vermag.

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Seit 2015 bei der taz, zunächst als Praktikant, dann als freier Autor und Kolumnist (zurzeit: "Ungenießbar"). Nebenbei Masterstudium der Ästhetik in Frankfurt am Main. Schreibt über Alltag, Medien und Wirklichkeit.

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