„Kleine Kratzer“ von Jane Campbell: Während sie die ergraute Katze bürstet

Mit 80 Jahren debütierte die Britin Jane Campbell mit beeindruckenden Kurzgeschichten. „Kleine Kratzer“ durchweht mal Melancholie, mal leiser Sarkasmus.

Die grauen Pfoten einer sitzenden Katze

In Jane Campbells Erzählungen sind nicht bloß die Katzen grau, sondern auch ihre Halterinnen Foto: Nailia Schwarz/pitopia/mauritius

Sie hoffe, so Jane Campbell in einem der Interviews anlässlich ihres Debüts, dass ihre Figuren nicht zu übersehen seien. Aus ihrem Munde kommt diesem Satz eine besondere Bedeutung zu, da ihre Protagonistinnen in der Literatur bislang so gut wie ­unsichtbar blieben: Die Frauen in ihren Erzählungen sind ­zwischen siebzig und Mitte achtzig. Alte Frauen aber kommen jenseits von Klischees, wie etwa der „komischen Alten“ oder der „weisen Alten“, literarisch nicht vor. Man darf sagen, dass Jane Campbell das geändert hat.

Jane ­Campbell: „Kleine Kratzer“. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Kjona Verlag, München 2023, 192 Seiten, 23 Euro

Als ihr Buch im vorigen Jahr in England erschien, war die britische Psychoanalytikerin selbst bereits achtzig Jahre alt. 2017 hatte sie eine Kurzgeschichte an die London Review of Books geschickt. Diese veröffentlichte die Erzählung, und die Herausgeberin motivierte die Autorin, mehr zu schreiben. Glücklicherweise kam Campbell dem nach, entstanden sind schließlich 13 Storys, in denen die Lesenden 13 ganz verschiedenen Frauen begegnen.

So der Ich-Erzählerin in der Geschichte „Katzenbuckel“, die bei Sohn und Schwiegertochter lebt. Während sie die ebenfalls ergraute Katze bürstet, denkt sie über ihr Alter nach. Sehr klar.

Prozess der Enteignung

Campbell lässt sie formulieren, was bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Charaktere doch sie alle betrifft: „Die Katze und ich lernen mehr und mehr über den Prozess der Enteignung. Das Altern wird oft als eine Phase der Kumulation dargestellt, der Anhäufung von Krankheiten, Beschwerden, Falten, aber in Wirklichkeit ist es ein Prozess der Enteignung. Freiheit, Respekt, Lust, all das, was man früher so selbstverständlich besessen und genossen hat, wird einem nach und nach genommen.“

Der Mangel an Respekt äußert sich oft in Unterschätzung. Während sie sich lebhaft an frühere Liebhaber und ihre Autorität im Beruf erinnert, bleibt in den Augen des Sohnes und „aller Welt“ nichts als das „bezaubernde Bild der Unschuld“, das eine alte Frau mit Katze verkörpere. Ein melancholischer Ton durchweht die Erzählung, unterlegt von einem leisen Sarkasmus. Schließlich aber fügt sich die Erzählerin. Das tun längst nicht alle Figuren.

In „Schopenhauer und ich“ benutzt die Ich-Erzählerin einen Pflegeroboter, um einen absurden Racheplan an den Betreibern des „Abladeplatz(es) für Alte“ durchzuziehen. Sie ist wütend und sie ist schlau. Weniger melancholisch als vielmehr zwischen bitter-komischer Ironie und echter Verletzung fein changierend ist hier der Ton.

Die Vielgestaltigkeit der Stimmen, die Campbell für ihre Figuren kreiert, ist beein­druckend. In Bettina Abar­banells feinsinniger Übertragung ins Deutsche wird tatsächlich für jede ein eigener Ton „hörbar“.

Ein Geschenk an Individualität

Themen wie Einsamkeit, Verlust, Selbstbestimmung, Erinnerung und nicht zuletzt Körper und Begehren nimmt die Autorin mehrfach auf, variiert sie, setzt unterschiedliche Schwerpunkte und Bezüge. In jeder Erzählung schwingt eine andere Grundstimmung mit. So schenkt Campbell jeder ihrer Frauenfiguren literarisch jene Individualität, die sie älteren und alten Frauen in der Realität oft verwehrt sieht.

Und erzählt Unerhörtes. „Die Lust eines alten Mannes ist abstoßend, aber schlimmer noch ist die Lust einer alten Frau. Das weiß jeder. Susan wusste es allemal.“ So beginnt die Erzählung „Susan und Miffy“, in der sich die über 80-jährige Susan in ihre knapp 30-jährige Pflegerin verliebt. Hier kennt die allwissende Erzählstimme alle Regungen Susans, die nur stockend und mit Scham erkennt, was sie fühlt.

Hier setzt Campbell ihre klare, unaufgeregte Sprache für eine feinfühlige Annäherung an eine späte Überwältigung ein. Nimmt kleine Gesten auf, gesenkte und geworfene Blicke, sinnliche Details, flicht meist kurze, lebendige Dialoge ein, sodass beide Figuren den Le­se­r*in­nen so plastisch wie glaubhaft vor Augen stehen. Und in Erinnerung bleiben.

Während Campbell in Su­sans Geschichte von einem späten Kipppunkt im Leben erzählt, sind es in anderen Erzählungen frühere Begegnungen, die ihre Wirkmacht über viele Jahre, ja Jahrzehnte entfalten.

Die absolute Entzauberung

In „Lamia“ kehrt Linda nach über dreißig Jahren zurück an einen Ort, wo sie der sie prägenden Liebe begegnete. An den Victoria-Fällen trifft sie wieder auf Malik. Doch so nah sie auch beieinandersitzen, so tief ist das Unverständnis zwischen ihnen, das die Autorin erzählerisch aufklaffen lässt. Die Entzauberung ist absolut. Und doch: „Nicht, was sie besessen hatte, sondern was sie losgelassen hatte, brachte ihr den Frieden.“

Campbells Frauen sind so unterschiedlich, wie es auch jüngere Menschen sind. Sehnsüchtig, hoffend, verzweifelt, wütend, auf ihre Autonomie bedacht, sich Begegnungen wünschend. Ihr Innenleben ist reich und voller lebendiger Erinnerungen. Manche sind wehrhaft, andere Opfer missbräuchlicher Beziehungen. Eine wahrt ihre Selbstbestimmung, indem sie ihr Leben selbst beendet.

Jane Campbells schonungsloser Blick verbindet sich mit Feinfühligkeit; die tiefe Emotio­nalität mit grimmigem Witz, feiner Ironie. Ihr großartiges Debüt schenkt der Literatur Frauenfiguren, die bislang fehlten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.