Christliche Fundamentalisten in Bremen: „Lasst euch drücken!“

In Bremen will eine radikalchristliche Pfingstgemeinde ein Sozialzentrum errichten – und damit eine Lücke füllen, die der Staat hinterlassen hat.

Die Musik- und Tanzgruppe „iThemba“ tanzt auf einer Bühne auf der Bürgerweide in Bremen.

Viel Pop, viel Bewegung: So wurde auch 2008 das evangelikale „Christival“ in Bremen eröffnet Foto: dpa

BREMEN taz | Der Weg zu Gott führt über eine notdürftig ausgebesserte Straße im Oldenburger Stadtteil Nadorst. Inmitten von all diesen putzigen Häusern, die irgendwie an der Schnittstelle zwischen Bauernkate, prunkvollem Kaufmannshaus und verklinkerter Backsteinplatte stehen, erhebt sich der moderne Neubau der Freien Christengemeinde Oldenburg. Mit seiner quadratischen Architektur, dem Flachdach und den sauber verputzten Wänden erinnert der Bau eher an das Vereinsheim eines wohlhabenden Vorstadt-Hockeyklubs als an eine Kirche.

Später wird der Pfarrer einen Satz in seiner Predigt sagen, der diese Besonderheit, die nur eine von vielen in dieser Geschichte ist, gut zusammenfasst: „Wir sind die Freikirche, deswegen nehmen wir uns alle Freiheit abzuweichen.“

In den Genuss dieser Freiheit abzuweichen sollen nun auch die Bürger*innen in Bremen-Nord kommen. Denn genau dort, an der Schnittstelle der drei Stadtteile Blumenthal, Lüssum-Bockhorn und Rönnebeck will die Freie Christengemeinde Oldenburg mit ihrem karitativen Dienst „Sozialwerk Oldenburg“ ein Sozialzentrum aufbauen, das in dieser Form deutschlandweit einmalig sein dürfte. Das Projekt „Ermlandstraße 2020“ umfasst eine Kita, eine Wohngruppe, eine Begegnungsstätte, eine Kantine, einen Indoor-Spielplatz, eine Freizeitanlage und einen psycho-sozialen Beratungsdienst und reagiert damit scheinbar perfekt auf die soziodemografische Gemengelage in Bremen-Nord.

Denn Blumenthal ist in der Hansestadt an der Weser vorrangig als sozialer Brennpunkt bekannt. Der Stadtteil verzeichnet einen überproportionalen Zuwachs an Geflüchteten, der Sozialindex ist im Bremer Vergleich unterdurchschnittlich, jede*r fünfte Blumenthaler*in lebt in Überschuldung. Die soziale Infrastruktur hinkt dieser Entwicklung hinterher. Da kommt ein ambitioniertes Projekt wie das der Freichristen den Behörden mehr als gelegen, um mit wenig Eigenaufwand wohlfahrtsstaatliche Arbeit in Bremen-Nord zu fördern. Der Ortsbeirat Blumenthal stimmte bereits in der Beiratssitzung vom 1. April dem Projektvorschlag des „Sozialwerks Oldenburg“ einstimmig bei drei Enthaltungen zu.

Missionierung im eigenen Land

Die Freie Christengemeinde Oldenburg zählt zur Strömung der Pfingstkirchen, die Expert*innen der evangelikalen Bewegung zurechnen. Der Evangelikalismus ist eine religiöse Bewegung, die von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich funktioniert und sich in kritischer Abgrenzung zum landeskirchlich anerkannten Protestantismus entwickelte. Ihrem Selbstverständnis nach vertreten sie den „wahren Glauben“ – und sind dazu verpflichtet, ihn zu verbreiten. Das nennt sich dann „Evangelisation“, gemeint ist damit die Missionierung im eigenen Land.

Wer durch die schwere Glastür den Neubau der Freien Christengemeinde Oldenburg betritt, wird direkt an der Tür mit Flyer und Handschlag begrüßt. Im Inneren eröffnet sich der Blick auf ein Foyer, das an eine renovierte Stadtbibliothek erinnert. Im Bookshop lassen sich Kalender und die neusten Publikationen erstehen, ein Infopoint lädt zur Beratung und Orientierung ein, und in der hauseigenen Cafébar „Leib&Seele“ werden biologische Fairtrade-Limonaden verkauft.

Zur Linken eröffnet eine Tür den Zugang zur eigentlichen Kirche: ein Raum so groß wie eine Tennishalle. Es ist kurz vor Beginn des Gottesdienstes – über einen Beamer wird ein Countdown bis zum Beginn des Gottesdiensts an die Rückwand geworfen, aus den Boxen dröhnt poppige House-Musik und es wird erst beim genauen Hinhören deutlich, dass die Texte dezidiert christlich sind. In einem Bereich der Kirche sind die Stühle zu einem „Kinderwagenparkplatz“ aufgestellt, auf der gegenüberliegenden Seite gibt es einen abgegrenzten Glaspavillon, in dessen Innerem junge Eltern mit ihren Sprösslingen gleichzeitig spielen und am Gottesdienst teilnehmen können.

Aus den Boxen dröhnt poppige House-Musik

Wer wie der Autor dieses Textes christliche Erfahrungen im Kindesalter vorwiegend in zugigen, dunklen und unterkühlten Kirchen genießen durfte, kommt kaum umher, eine stille Bewunderung für dieses zeitgemäße Angebot an Religiosität zu empfinden. Immerhin 50 Menschen sind trotz der Osterferien zum bereits zweiten Sonntagsgottesdienst des Tages gekommen, von Wollmäusen in den hinteren Reihen der Kirchenbänke ist hier nichts zu spüren. Kein Wunder, schließlich zählen die Pfingstgemeinden zur am schnellsten wachsenden religiösen Gruppierung der Welt. Und auch in Deutschland scheinen sie zunehmend einen Nerv zu treffen.

Religionswissenschaftler*innen bedienen sich zur Erklärung dieses Umstandes der Markttheorie, die das Verhältnis von verschiedenen religiösen Gruppen mit dem Konkurrieren verschiedener Produkte nach kapitalistischer Wertschöpfungslogik beschreibt. Demzufolge seien die Evangelikalen durch ihre Fähigkeit, popkulturelle Phänomene und digitale Medien in ihre Wirkungsweisen zu integrieren, besonders attraktiv auf dem Basar der religiösen Heilsversprechungen.

Im Saal wird derweil das Licht gedimmt und die Christpopband fängt an zu spielen. Der Text ist auf Englisch und wird zusammen mit der deutschen Übersetzung an die Wand projiziert. Die Gläubigen stehen beim Singen auf, wiegen sich im Takt der Melodie, manch eine*r reckt die Hand gen Himmel.

Gottesdienst ohne Liturgie

Was folgt ist ein Gottesdienst ohne jegliche Liturgie, dafür aber mit viel Musik und Bewegung, einem Abendmahl und einer Predigt. Die hält ein junger, hübscher Mann, zum Einsatz kommt abermals eine Power-Point-Präsentation. Inhaltlich ist die recht harmlos, es wird aus dem Markusevangelium zitiert, und immer geht es um diesen Jesus, der hier so präsent ist, als ob er ein Gemeindemitglied wäre, der es heute ausnahmsweise mal nicht geschafft hat, persönlich zum Flyern und Händeschütteln nach Oldenburg-Nadorst zu kommen.

Wer sich nun fragt, was denn letztlich das Problem der ganzen Sache ist, dem sei die Stellungnahme zum Thema Homosexualität des Bundes Freichristlicher Pfingstgemeinden, dem die Freie Christengemeinde Oldenburg angehört, empfohlen. In dem zweiseitigen Dokument wird die wortwörtliche Auslegung der Bibel als Referenzpunkt der Pfingstler deutlich: So gäbe es keine wirklichen Homosexuellen, sondern nur „homosexuell fühlende“ Menschen, deren Neigung „veränderbar“ sei. Des Weiteren wird Homosexualität in der Bibel stets mit anderen Sünden in Verbindung gebracht und störe somit die Beziehung zwischen Mensch und Gott. Dass Mann und Frau geschaffen wurden um sich zu vermehren, ist sowieso klar.

Diesbezüglich ist auch der Youtube Kanal „Gute Nachricht TV“ interessant, der einen Jungprediger der Gemeinde, Simon Dreher, in seinem Wirken zeigt. Harmlos sind da noch Aussagen wie die, dass die Frau dem Mann zum Dienen unterstellt sei. Unter anderem wettert auch er gegen Homosexuelle und die Ehe für alle und gibt eine auf Kreuzzug gestylte Anleitung, wie man zum Gebetskämpfer werden kann. Auch das ist Teil der Freien Christengemeinde Oldenburg.

Getränkegutschein für neue Besucher*innen

Gegen Ende dieses Palmsonntagsgottesdienstes passiert dann doch noch was Interessantes. Kurz vor der Abmoderation fragt der Prediger, wer denn hier zum ersten Mal dabei sei. Neben dem Autor heben noch drei weitere Besucher*innen zögerlich die Hand, und sofort eilt ein Gemeindemitglied her und überreicht strahlend mit einem „Willkommen in der Gemeinde“ eine Geschenktüte. Darin gibt es eine „Kontaktkarte“ und eine Einführung in das Willkommensprogramm „Next Steps“, das sich gezielt an Neuankömmlinge richtet. Und sei dies an umarmender Missionierung noch nicht genug, gibt es noch einen Getränkegutschein für die Snack-Bar.

Eine wunderbare Gelegenheit, nach dem Gottesdienst bei einer Holunderlimonade Kontakte zu knüpfen. Diese lassen auch nicht lange auf sich warten, und so ist man bald im Gespräch mit dem Prediger und einem jungen Senegalesen, der seit vier Jahren Teil der Gemeinde ist und aus dessen Augen die Nächstenliebe einen förmlich anspringt. Es folgt ein wenig Smalltalk, in dem bekräftigt wird, wie schön es wäre, sich ab jetzt öfters hier zu sehen. Zum Ende wird der Autor noch bis zur Bushaltestelle gebracht.

Der Projektleiter will nicht wörtlich zitiert werden

Wie würde ein soziales Zentrum in Bremen-Nord aussehen, das nach den Lehren und dem Selbstverständnis dieser Gemeinde errichtet wird? Die Antwort auf diese Frage möchte Nimo Henze liefern. Er ist der Projektleiter der „Ermlandstraße 2020“ und beim Sozialwerk Oldenburg angestellt. Auf die Anfrage zu einem Interview willigt er ohne Zögern ein, später distanziert er sich von all seinen Aussagen und will nicht wörtlich zitiert werden.

Das Treffen findet direkt vor Ort statt, in der Ermlandstraße in Bremen-Blumenthal. Dieser Teil der Stadt, den man nach einer dreiviertelstündigen S-Bahn Fahrt vorbei an Villen, Plattenbauten und verlassenen Geschäften erreicht, ist ein gefühltes Niemandsland. Das Areal ist eingerahmt von einem Busdepot, der Stadtautobahn und dem Gelände des ehemaligen Tennisklubs, das jetzt als Übergangswohnheim für Geflüchtete genutzt wird. Henze, ein Mann Mitte dreißig, mit braunen Haaren und Dreitagebart, steht auf der Wiese neben dem Busdepot und deutet mit seinen Fingern an, wo nach Willen des Sozialwerks der Neubau errichtet werden soll.

Denn genau hier, auf dieser Wiese, soll in einem ersten Schritt eine Kita mit Platz für acht Gruppen sowie ein Begegnungszentrum entstehen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße liegt der ehemalige Tennisklub, auf dessen Gelände sich noch die alte, etwas schimmlige Tennishalle sowie die neu dazu gewürfelten Räumlichkeiten des Übergangswohnheims für Geflüchtete befinden. Das Heim wird momentan noch vom Arbeiter-Samariter-Bund betrieben, allerdings soll im Zuge des Projektes „Ermlandstraße 2020“ nun eine Bedarfsprüfung durch die Stadt durchgeführt werden.

Das große Ganze

Sollte diese entscheiden, dass das Übergangswohnheim nicht weiter benötigt wird, würde das Sozialwerk Oldenburg gern die Räumlichkeiten sowie die Tennishalle in das Gesamtkonzept inte­grieren. Aus dem Heim würde eine betreute Wohneinrichtung für sozial und emotional benachteiligte Menschen entstehen, die Tennishalle soll zu einem Indoor-Spielplatz umfunktioniert werden.

Doch wie hält es das Sozialwerk nun mit der Missionierung? Am selben Tag lädt der Verein „Internationaler Bund der Konfessionslosen und Atheisten e. V.“ zu einer Gegenveranstaltung in Bremen-Nord ein. Kopf der Organisation ist Herbert Thomsen, ein Mann mittleren Alters und Klassenkämpfer der alten Schule. Mit vor der Brust verschränkten Armen erklärt er an diesem Abend einem Grüppchen Parteimitglieder der „Linken“ die Causa „Ermlandstraße 2020“. Vor einem selbstgemalten Tortendiagramm referiert er über die evangelikale Bewegung weltweit, und insbesondere über die Pfingstler.

Schnell wird klar, dass es auch hier um das große Ganze geht: die weltweite Turbomissionierung der Pfingstbewegung, ihre Verknüpfungen zum rechten Rand der Gesellschaft, Evangelikale, die in der ersten Reihe des „Marsches fürs Leben“ laufen und ihr bereits in Bremen existierendes Netz von Schulen, Altenheimen, Kindergärten und sonstigen Pflegeeinrichtungen.

Etablierte evangelikale Kitas

Laut Thomsen ist die Bremer Politik bereits stellenweise unterlaufen von evangelikalen, fundamentalistischen Christen, und auch die Zustimmung des Ortsbeirats Blumenthal zum Projekt „Ermlandstraße 2020“ sei ein bewusster Pakt mit den Religiösen. Vieles, was der Mann sagt, ist richtig, manches klingt wiederum nach evangelikaler Weltverschwörung.

Doch die Kritiker*innen sind sich nicht sicher, mit wem sie es beim Sozialwerk Oldenburg zu tun haben. Keine*r der Anwesenden kennt die Gemeinde in Oldenburg, auch mit dem Projektleiter Nimo Henze hat noch niemand gesprochen.

Allerdings gibt es in Bremen bereits eine Reihe etablierter evangelikaler Kitas, in denen tatsächlich Missionierung, Bibelunterricht und eine religiöse Ausrichtung der Erziehungsarbeit fester Bestandteil sind. Vom Sozialwerk Oldenburg und ihrem Projekt in der Ermlandstraße sei darum wohl nichts Gegenteiliges zu erwarten. Des Weiteren sei die Freie Christengemeinde Mitglied in den offen homophoben und anti-emanzipatorischen Dachorganisationen des Bundes Freichristlicher Pfingstgemeinden und der Evangelischen Allianz.

Offener Brief an die zuständigen Senatorinnen

Am Tag darauf schicken 31 Kritiker*innen aus Gewerkschaften, dem Erziehungssektor, der „Linken“, der Wissenschaft und aus queeren Selbstvertretungsorganisationen einen offenen Brief an die zuständigen Bremer Senatorinnen.

Maja Tegeler ist eine der Initiatorinnen des offenen Briefs, sie sitzt im Vorstand des Bremer CSD-Vereins. Ihr ist es wichtig zu betonen, dass man nicht grundsätzlich ein Problem damit habe, dass eine konfessionell gebundene Kita eröffnet werden soll. Der Knackpunkt sei für sie vielmehr, dass es sich bei der Pfingstbewegung um eine religiös-fundamentalistische Gruppierung handele, die man mit ihren ewig gestrigen Positionen nicht auf Kinder loslassen dürfe.

Die Frage, ob nun die Freie Christengemeinde Oldenburg und ihr Sozialwerk fundamentalistische Christ*innen sind, die Wohltätigkeit eben auch als Missionierung begreifen, ist allerdings nur eine Dimension dieses vielschichtigen Problems. Im Großen und Ganzen geht es nämlich um die Frage, wer in Deutschland zuständig für Wohlfahrt und Care-Arbeit ist, und was dies in Zeiten von neoliberalem Sozialstaatsabbau und Privatisierung bedeutet.

Der Staat ringt mit sich selbst

Anruf bei Peter Nowack. Er ist Sozialdemokrat und Ortsamtsleiter in Blumenthal und somit auch Vorsitzender des Beirats, der das Konzept „Ermlandstraße 2020“ einstimmig angenommen hat. Die Frage der Missionierung durch die Pfingstgemeinde habe man öffentlich diskutiert, erklärt Nowack am Telefon. Letztlich sei man aber zum Ergebnis gekommen, dass das Sozialwerk der Freien Christengemeinde Oldenburg Teil einer gemäßigten Freikirche sei. Die Meinung des Internationalen Bundes des Konfessionslosen und Atheisten teile er deswegen nicht.

„Der Staat kriegt es derzeit einfach nicht geregelt, selber für ein ausreichendes Angebot zu sorgen“, sagt Nowack. In Blumenthal würden gerade fünf Kitas errichtet, alle von privaten Trägern. „Wir haben die Vorgaben des Senats zu erfüllen, um dem gesetzlichen Anspruch auf einen Kita-Platz ab dem ersten Lebensjahr gerecht zu werden. Natürlich sind wir glücklich über jeden, der das Prob­lem mit uns gemeinsam angehen möchte, egal ob der Träger staatlich oder kirchlich ist.“ In seiner Stimme schwingt eine Spur Verzweiflung mit.

Die Debatte um das Projekt „Ermlandstraße 2020“ ist letztlich ein Lackmustest für die Frage, wie eine flächendeckende Sozialarbeit für Kinder, Erwachsene, Geflüchtete, Schuldner*innen und sonstige Hilfsbedürftige heutzutage funktionieren soll. Gerade das chronisch klamme, aber eben auch sehr evangelikale Bremen ringt dabei spürbar mit sich selbst und seinem Selbstverständnis.

Das Sozialwerk Oldenburg hat einen sehr realen Missstand klug erkannt und bietet scheinbar Abhilfe. Ob die Einrichtung frei von religiöser Indoktrinierung funktioniert, wird sich im Jahr 2020 zeigen.

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