Verstolperte Dekolonialisierung

In Gütersloh sollte der Nettelbeckweg umbenannt werden, denn der Namens­geber war ein Sklavenhändler. Die Debatte wurde sorgfältig geführt,
bis die Lokalpolitik das Finale hintertrieb

Von Matthias Dell

Gibt es nichts Wichtigeres, lautet oft die Frage, wenn eine Straße umbenannt werden soll, vor allem bei Namen, die einen kolonialen Bezug haben. Wer die Frage nur rhetorisch stellt, übersieht, dass Straßennamen, so banal sie sein mögen, Identität stiften. Die eigene Adresse stellt den Kontakt zu etwas so Abstraktem wie Erinnerungskultur her und damit zu der Gesellschaft, in der man lebt. Feiertage, Museen und Denkmäler lassen sich ignorieren. Der Name der Straße, in der man wohnt, aber steht im Ausweis, das schafft Verbindung. Dafür spricht auch die Gegenprobe: Wenn es so Wichtigeres gibt als Straßennamen, wieso ist der Widerstand gegen Umbenennungen aus dekolonialen Gründen dann zumeist so groß?

In Gütersloh wurde seit Herbst über die Umbenennung des dortigen Nettelbeckwegs diskutiert. Joachim Nettelbeck (1738–1824) firmiert in älteren Lexika zumeist als Seefahrer, Patriot und „Verteidiger von Kolberg“, den die Nazis durch Veit Harlans Durchhaltefilm „Kolberg“ (1943–1945) zum Vorbild für ihren sinnlosen Kampf am Ende des verlorenen Krieges machen wollten.

Neuere Forschung hat erhellt, dass Nettelbeck für den Erwerb von Kolonien lobbyierte und als Offizier auf niederländischen Schiffen aktiv vom transatlantischen Versklavungshandel profitierte. Dies in einer Zeit, in der diese Form des Menschhandels hierzulande bis in Schulbücher hinein kritisch gesehen wurde. Was in Vergessenheit geraten konnte, weil das Bild Nettelbecks, angefangen von ihm selbst, über die Jahrhunderte umgebaut wurde – der Kolonialenthusiast und Sklavenhändler verschwand hinter dem Patrioten.

Eine wesentliche Rolle spielte dabei Paul Heyses Drama „Colberg“ von 1868. Es diente als Vorlage für Harlans Propagandafilm und wurde in Gütersloh 1964 als Begründung für die Ehrung Nettelbecks herangezogen, als eine kleine Stichstraße nach Nettelbeck benannt wurde – die antisemitischen Figurenentwürfe in „Colberg“ störten nicht.

Letzteres wurde vom Nettelbeck-Experten Urs Lindner auf einer Anwohnendenversammlung in Gütersloh Anfang März dargelegt. Das Forum, auf dem auch den Sichtweisen von anwesenden Personen aus 13 Haushalten aus dem Nettelbeckweg Raum geboten wurde, ist ein guter Beleg dafür, dass die Stadt den Prozess durchaus vorbildhaft organisierte. Besonders im Vergleich zu Erfurt, wo von 2020 bis 2023 über die Umbenennung des Nettelbeckufers gestritten wurde. Dort kam ein beschlossener runder Tisch nie zustande, und ein Lokalhistoriker trug eher zur Desinformation bei als zur Aufklärung. Die SPD-Fraktion des Oberbürgermeisters Andreas Bausewein flipperte sachfern und politisch orientierungslos durch die Diskussion, um am Ende mit AfD und CDU für den CDU-Vorschlag auf Beibehaltung zu stimmen. Zuvor waren in Dortmund (Nettelbeckstraße, 2020) und Berlin (Nettelbeckplatz, 2021) Umbenennungsbeschlüsse getroffen worden.

In Gütersloh hatte die lokale Politik bereits 2021 eine Richtlinie verabschiedet, die vom eigens eingesetzten Expertise-Gremium AG Straßennamen erarbeitet worden war. Darin wird der Umgang mit problematischen Straßennamen differenziert beschrieben. Die Umbenennung als stärkstes Mittel ist demnach nur in Ausnahmefällen vorgesehen, Beförderung von und Beteiligung an kolonialer Unterdrückung sind einer.

In älteren Lexika gilt Nettelbeck als Seefahrer und Patriot

Der Impuls für die Diskussion um den Nettelbeckweg kam in Gütersloh von einer Schulklasse des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums. Diese hatte im Herbst über einen sogenannten Bürgerantrag den Vorschlag zur Umbenennung eingereicht. Als Person, die an Stelle Nettelbecks künftig geehrt werden sollte, wurde Johanna Gertze vorgeschlagen, die als Urieta Kazahendike 1837 im heutigen Namibia geboren wurde und 1936 dort verstarb. Gertze lebte Mitte des 19. Jahrhunderts für einige Zeit in Gütersloh im Haushalt eines Missionars, wo sie auf den deutschen Namen getauft wurde; dem Missionar half sie als eine Art Martina Luther maßgeblich bei der Übersetzung der Bibel in die Sprache der Herero.

Die Initiative der Schulklasse resultierte aus einem Rechercheprojekt zu drei belasteten Straßennamen, mit dem die Jugendlichen bei einem Geschichtswettbewerb der Bundeszentrale für politische Bildung einen Preis gewonnen hatten. Nur beim Nettelbeckweg lag der Fall dann so klar, dass der Antrag eingereicht wurde, weil sich für die Beibehaltung des Namens aus heutiger Sicht kein Grund mehr finden lässt.

Inhaltliche Argumente für eine andauernde Ehrung eines Sklavenhändlers waren dann auch weder aus der Politik noch auf der Anwohnendenversammlung zu vernehmen. Zugleich wurde das Engagement der Schulklasse quer durch fast alle Fraktionen gelobt, auch von den konservativen Bürgern für Gütersloh (BfGT). SPD und Grüne hatten sich früh für eine Umbenennung ausgesprochen, die CDU forderte im Februar, nach einer schriftlichen Befragung der Anwohnenden, noch, die erwähnte Versammlung im März zu veranstalten.

Eigentlich hätte der Kulturausschuss Anfang April dann eine Entscheidung treffen sollen. Die Sitzung endete allerdings in großer Ratlosigkeit. Es wurde nämlich sowohl ein kurzfristig eingereichter Änderungsantrag der CDU-Fraktion beschlossen, der für Beibehaltung des Namens und die Anbringung eines QR-Codes mit Information über Nettelbecks Lebensleistung votierte, als auch der ursprüngliche Umbenennungsantrag. Das war möglich, weil die konservative Mehrheit mit CDU und BfGT für die Beibehaltung votierte, sich bei der Abstimmung über den Umbenennungsantrag dann aber enthielt – wohl aus Sorge, die anwesende Schulklasse auf den Rängen zu enttäuschen, wie von mehreren Seiten zu hören war.

Also wurde die Entscheidung in die nächste Stadtratssitzung Anfang Mai verwiesen. Dort stand dann aber zum deutlich bekundeten Ärger von SPD und Grünen nur noch eine formale Beanstandung zur Abstimmung, die auf einen Einspruch durch den Ersten Beigeordneten Henning Matthes (CDU) als Vertreter des Bürgermeisters zurückging. Danach hätte über den Umbenennungsantrag im Kulturausschuss gar nicht mehr abgestimmt werden dürfen, weil der Änderungsantrag bereits angenommen war.

In vielen deutschen Städten zu finden: Nettelbeckstraße, hier in Duisburg Foto: Services/imago

Diese Lesart ist juristisch nicht so klar, wie sie tut. Denn laut Geschäftsordnung des Gütersloher Stadtrats sind Änderungsanträge „Anträge, die vom ursprünglichen Sachantrag ausgehen und ihn lediglich modifizieren“. Und davon kann bei einem Antrag, der das Gegenteil des Ursprungsantrags fordert (Beibehaltung statt Umbenennung), ja schlecht die Rede sein.

So geht die Debatte um den Gütersloher Nettelbeckweg fürs Erste doch auffällig verdruckst zu Ende. Schaut man aus fernerer Warte auf das verstolperte Finale, in dem die Auseinandersetzung über ein Riesenthema wie Kolonialismus durch Winkelzüge auf einen Formfehler reduziert werden konnte, wird eine Hasenfüßigkeit vor allem der konservativen Politik erkennbar – die Unfähigkeit, politische Entscheidungen zu treffen. Das mag damit zu tun haben, dass man sich trotz guter Gründe nicht traut, gegen denjenigen Teil der Anwohnenden zu entscheiden, die der Umbenennung ablehnend gegenüberstehen; im Gütersloher Fall eine Zahl im unteren zweistelligen Bereich.

Letztlich verlängert die unklare Entscheidungsfindung das Gezerre aber gerade auch für diese Gruppe, weil die Diskussion über das koloniale Erbe dadurch nicht aufhören wird, das Aufschieben und Zeitschinden die Sache nicht besser macht. Man kann sich die Debatten über Dekolonialisierung wie einen Wecker vorstellen, der gerade ziemlich laut klingelt. Sofort aufzustehen, wirkt im ersten Moment hart. Aber immer wieder auf Schlummern zu drücken, rädert am Ende viel mehr.